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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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auf Generation sich fortpflanzend, ihren Platz zeitlebens behauptet. Gebrechliche
Greise, alte Frauen mit zahnlosem Kiefer, verkrüppelte Kinder, welche während
Jahrhunderte (sie) die Sockel der Säulen mit ihren Gliedern blank gerieben haben,
welche, wie Reptilien am Boden kriechend oder liegend, ein Leben geistiger und
körperlicher Unthätigkeit führen, ein anderes Obdach nicht kennen und von einem
ewig blauen Himmel und von einer ewig lauen Luft begünstigt, gleich dem Unkraut
im Hofwinkel fort vegetiren und fort wuchern, von Niemand gestört, von Niemand
zertreten. Nüchtern und anspruchslos bis zum Excesse, gelingt es ihnen nicht selten,
mit dem erbettelten Almosen Ersparnisse zu machen, welche in irgend einer Falte
des Gewandes zeitlebens aufbewahrt, nach dem Tode als herrenloses Gut dem
Fiscus anheimfallen. Ihr stetes Verbleiben im Schatte" dunkler Gänge und Bogen
läßt sie mit den gelbblassen Kellcrpflanzen vergleichen, die ein Zwitterthum zwischen
Sein und Nichtsein bilden. Menschen nicht, wohl nur Existenzen oder Creaturen,
weder Fisch noch Fleisch, bieten sie dem Künstler wie dem Beobachter großes Inter¬
esse dar. ,?"r Vristo e.l'noir'v-ello, una limasnn/! -- murmeln sie dem Eintretenden
entgegen, küssen sein Kleid, auf demselben die Spuren des Mundes zurücklassend,
und strecken ihre knöcherne" Händen krampfhaft nach oben. Regungslose Polypen
möchten wir sie nennen, deren Fühler beim Herannahen eines Menschen zucken und
sich mechanisch ihm entgegenbewegen".

Also erst giebt es so gut wie gar keine Bettler in Barcelona, oder "sie ent¬
ziehen sich wenigstens dem Auge", und vier Seiten später bilden sie "eine
eigne Familie", sind "Reptilien", "Unkraut", "gelbblasse Kellerpflanzen", "Existenzen
oder Creaturen", "weder Fisch noch Fleisch", "regungslose Polypen", "erregen
mehr unser Interesse als unser Mitleid" und "bieten dem Künstler wie dem
Beobachter großes Interesse dar"!

Die mitgetheilte Stelle kann aber zugleich als Probe von der Darstellungs-
weise des Verfassers dienen, die, wie der Leser sich wohl bereits überzeugt haben
wird, unlogisch, grammatisch fehlerhaft und geschmacklos "bis zum Excesse" ist.
Es lohnt der Mühe, auch auf diese Seite des neuen "Prachtwerkes" etwas näher
einzugehen.

Die Fabrikanten von Prachtwerktexten scheinen zu glauben, daß die Höhe
und Stärke des Tons, in welchem sie ihren Text abzufassen haben, unausgesetzt
proportional sein müsse der Fornmthvhe und Papierstärke, in welcher er ver¬
öffentlicht werden wird. Fast ausnahmslos befleißigt sich dieses Genre, anstatt
in schlichter und ruhiger Weise zu belehren und nur ausnahmsweise einmal
größere Wärme und größeren Schwung der Darstellung zu entfalten, eines un¬
unterbrochenen Pathos. Gewiß giebt es unter dem großen Haufen Leser, die
dies schön finde". Für ein gebildetes Ohr aber wird nichts schneller lang¬
weilig und monoton, als der ewige Brustton und Athletenstil, das fortwährende
os rotunclum, das unaufhörliche Hin- und Hertanmeln zwischen Poesie und


auf Generation sich fortpflanzend, ihren Platz zeitlebens behauptet. Gebrechliche
Greise, alte Frauen mit zahnlosem Kiefer, verkrüppelte Kinder, welche während
Jahrhunderte (sie) die Sockel der Säulen mit ihren Gliedern blank gerieben haben,
welche, wie Reptilien am Boden kriechend oder liegend, ein Leben geistiger und
körperlicher Unthätigkeit führen, ein anderes Obdach nicht kennen und von einem
ewig blauen Himmel und von einer ewig lauen Luft begünstigt, gleich dem Unkraut
im Hofwinkel fort vegetiren und fort wuchern, von Niemand gestört, von Niemand
zertreten. Nüchtern und anspruchslos bis zum Excesse, gelingt es ihnen nicht selten,
mit dem erbettelten Almosen Ersparnisse zu machen, welche in irgend einer Falte
des Gewandes zeitlebens aufbewahrt, nach dem Tode als herrenloses Gut dem
Fiscus anheimfallen. Ihr stetes Verbleiben im Schatte» dunkler Gänge und Bogen
läßt sie mit den gelbblassen Kellcrpflanzen vergleichen, die ein Zwitterthum zwischen
Sein und Nichtsein bilden. Menschen nicht, wohl nur Existenzen oder Creaturen,
weder Fisch noch Fleisch, bieten sie dem Künstler wie dem Beobachter großes Inter¬
esse dar. ,?«r Vristo e.l'noir'v-ello, una limasnn/! — murmeln sie dem Eintretenden
entgegen, küssen sein Kleid, auf demselben die Spuren des Mundes zurücklassend,
und strecken ihre knöcherne» Händen krampfhaft nach oben. Regungslose Polypen
möchten wir sie nennen, deren Fühler beim Herannahen eines Menschen zucken und
sich mechanisch ihm entgegenbewegen".

Also erst giebt es so gut wie gar keine Bettler in Barcelona, oder „sie ent¬
ziehen sich wenigstens dem Auge", und vier Seiten später bilden sie „eine
eigne Familie", sind „Reptilien", „Unkraut", „gelbblasse Kellerpflanzen", „Existenzen
oder Creaturen", „weder Fisch noch Fleisch", „regungslose Polypen", „erregen
mehr unser Interesse als unser Mitleid" und „bieten dem Künstler wie dem
Beobachter großes Interesse dar"!

Die mitgetheilte Stelle kann aber zugleich als Probe von der Darstellungs-
weise des Verfassers dienen, die, wie der Leser sich wohl bereits überzeugt haben
wird, unlogisch, grammatisch fehlerhaft und geschmacklos „bis zum Excesse" ist.
Es lohnt der Mühe, auch auf diese Seite des neuen „Prachtwerkes" etwas näher
einzugehen.

Die Fabrikanten von Prachtwerktexten scheinen zu glauben, daß die Höhe
und Stärke des Tons, in welchem sie ihren Text abzufassen haben, unausgesetzt
proportional sein müsse der Fornmthvhe und Papierstärke, in welcher er ver¬
öffentlicht werden wird. Fast ausnahmslos befleißigt sich dieses Genre, anstatt
in schlichter und ruhiger Weise zu belehren und nur ausnahmsweise einmal
größere Wärme und größeren Schwung der Darstellung zu entfalten, eines un¬
unterbrochenen Pathos. Gewiß giebt es unter dem großen Haufen Leser, die
dies schön finde«. Für ein gebildetes Ohr aber wird nichts schneller lang¬
weilig und monoton, als der ewige Brustton und Athletenstil, das fortwährende
os rotunclum, das unaufhörliche Hin- und Hertanmeln zwischen Poesie und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/124>, abgerufen am 22.07.2024.