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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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diese beiden Momente neben ihm zum Ausdruck gelangen, um so tiefer ist bei
ihm selbst der Eindruck des höchsten Schmerzes, der eben eintritt, der schon über
das drohende Kommen hinaus, aber noch nicht zur Erlösung gelaugt ist. So
bilden diese beideu Momente vor- und nachher die Basis, aus welcher sich der
eigentliche Gegenstand der Darstellung in seiner ganzen rücksichtslosen Furcht¬
barkeit zeigen kann. Die Empfindung von der Unentrinnbarkeit des Geschicks
haben die Künstler durch eiuen kleinen, aber vortrefflichen Zug zu erhöhen ver¬
standen. Der einzige matte Versuch der Abwehr, welchen Laokoon macht, besteht
darin, daß er mit der linken Hand nach der den Rachen zum Biß öffnenden
Schlange greift. Nur wenn er sie unmittelbar am Kopfe ergriffe, bliebe die
Möglichkeit, sie zurückzureißeu. Die Künstler aber lassen ihn die Schlange soweit
hinter dem Kopfe fassen, daß zwischen Hand und Kopf eine Windung bleibt,
durch deren Ausstreckung die Schlange auch dann den Körper erreichen würde,
wenn es Laokoon gelänge, sie vom Körper zu entfernen. Und ebensowenig
vermag das bereits zur äußersten Grenze der Möglichkeit gelangte Ausweichen
des Körpers selbst den Biß zu verhindern ^ es giebt keine Rettung. Mit
welcher Kunst aber der Schmerz seinen Ausdruck gefunden hat, wie er in jedem
Muskel bebt und den kraftvollen Mann überwindet, das bedarf hier keiner
neuen Ausführung. Für unsre Betrachtung genügt es zu zeigen, durch welche
Mittel die Künstler eine tragische Wirkung erreichen wollten, und wie sie, dem
Geschmack ihrer Zeit folgend, zu Mitteln griffen, welche wohl Vorstufen der
tragischen Empfindung, nicht aber diese selbst in ihrer höchsten Entwicklung zu
bewirken vermögen.

Dies ist unter den statuarischen Gruppen, von welchen wir uns durch
Reste noch eine Anschauung macheu können, überhaupt wohl uur in einer einzigen
vollständig der Fall gewesen, und zwar in der Niobegruppe. Diese geht aber
in eine frühere Zeit zurück, welche der Wirksamkeit der großen Tragiker noch
weit näher stand und in welcher besonders die Erregungen der Seele, wie sie
Euripides mit Vorliebe sich zum Ziele gesetzt hatte, auch in der bildenden Kunst
ihre Verbreitung fanden. Geht doch die Poesie der bildenden Kunst stets in
der Weise voran, daß in jener die lebhaften Bewegungen des Geistes und des
Gemüthes, die leidenschaftliche Erregung der Seele früher zu vollendetem Aus¬
druck kommt und die langsamer folgende Schwesterkunst erst allmählich in ihre
Bahnen zwingt. So rathen uns die Reste dieser großartigen Gruppe wie
ein Wiederaufleben der poetischen Kraft jener Beherrscher der Tragik an: der
Geist ist derselbe, die Mittel des Ausdrucks sind andere geworden. Daß sie
nicht geringerer Art gewesen sind, mag uns noch die herrliche Gestalt aus dem
Ain8so ?la-(Ä0akut,i'ne) beweisen, die dem Original sicher weit näher steht als
die anderen uns erhaltenen, nieist in Florenz befindlichen Neste, welche wir uns


diese beiden Momente neben ihm zum Ausdruck gelangen, um so tiefer ist bei
ihm selbst der Eindruck des höchsten Schmerzes, der eben eintritt, der schon über
das drohende Kommen hinaus, aber noch nicht zur Erlösung gelaugt ist. So
bilden diese beideu Momente vor- und nachher die Basis, aus welcher sich der
eigentliche Gegenstand der Darstellung in seiner ganzen rücksichtslosen Furcht¬
barkeit zeigen kann. Die Empfindung von der Unentrinnbarkeit des Geschicks
haben die Künstler durch eiuen kleinen, aber vortrefflichen Zug zu erhöhen ver¬
standen. Der einzige matte Versuch der Abwehr, welchen Laokoon macht, besteht
darin, daß er mit der linken Hand nach der den Rachen zum Biß öffnenden
Schlange greift. Nur wenn er sie unmittelbar am Kopfe ergriffe, bliebe die
Möglichkeit, sie zurückzureißeu. Die Künstler aber lassen ihn die Schlange soweit
hinter dem Kopfe fassen, daß zwischen Hand und Kopf eine Windung bleibt,
durch deren Ausstreckung die Schlange auch dann den Körper erreichen würde,
wenn es Laokoon gelänge, sie vom Körper zu entfernen. Und ebensowenig
vermag das bereits zur äußersten Grenze der Möglichkeit gelangte Ausweichen
des Körpers selbst den Biß zu verhindern ^ es giebt keine Rettung. Mit
welcher Kunst aber der Schmerz seinen Ausdruck gefunden hat, wie er in jedem
Muskel bebt und den kraftvollen Mann überwindet, das bedarf hier keiner
neuen Ausführung. Für unsre Betrachtung genügt es zu zeigen, durch welche
Mittel die Künstler eine tragische Wirkung erreichen wollten, und wie sie, dem
Geschmack ihrer Zeit folgend, zu Mitteln griffen, welche wohl Vorstufen der
tragischen Empfindung, nicht aber diese selbst in ihrer höchsten Entwicklung zu
bewirken vermögen.

Dies ist unter den statuarischen Gruppen, von welchen wir uns durch
Reste noch eine Anschauung macheu können, überhaupt wohl uur in einer einzigen
vollständig der Fall gewesen, und zwar in der Niobegruppe. Diese geht aber
in eine frühere Zeit zurück, welche der Wirksamkeit der großen Tragiker noch
weit näher stand und in welcher besonders die Erregungen der Seele, wie sie
Euripides mit Vorliebe sich zum Ziele gesetzt hatte, auch in der bildenden Kunst
ihre Verbreitung fanden. Geht doch die Poesie der bildenden Kunst stets in
der Weise voran, daß in jener die lebhaften Bewegungen des Geistes und des
Gemüthes, die leidenschaftliche Erregung der Seele früher zu vollendetem Aus¬
druck kommt und die langsamer folgende Schwesterkunst erst allmählich in ihre
Bahnen zwingt. So rathen uns die Reste dieser großartigen Gruppe wie
ein Wiederaufleben der poetischen Kraft jener Beherrscher der Tragik an: der
Geist ist derselbe, die Mittel des Ausdrucks sind andere geworden. Daß sie
nicht geringerer Art gewesen sind, mag uns noch die herrliche Gestalt aus dem
Ain8so ?la-(Ä0akut,i'ne) beweisen, die dem Original sicher weit näher steht als
die anderen uns erhaltenen, nieist in Florenz befindlichen Neste, welche wir uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/118>, abgerufen am 22.07.2024.