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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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und dennoch von der Gottheit um des höheren Zieles willen, der Erfüllung
des Schicksalsschlnsses wegen, dem er sich zwar ohne Wissen und Willen ent¬
gegenstellt, aber doch immerhin entgegenstellt, Getödtete, ist eine tragische Gestalt,
deren Bedeutung noch dadurch erhöht wird, daß in den Untergang des Vaters
auch noch die Kinder hineingezogen werden. Ist so der Gegenstand zweifellos
tragisch, so fragt es sich nun, was die Künstler daraus gemacht haben.

Da ist zuerst der erschütterndste Zug vollständig unbeachtet gelassen worden,
der Umstand, daß die Kinder mit dem Vater sterben und dieser Schmerz in der
Seele des Vaters, den eignen Schmerz überkommt, wiederklingen muß. Für
diesen Vater existirt aber nichts als sein eigner Schmerz, und zwar sein körper¬
licher; nichts in ihm läßt ahnen, daß seine Kinder neben ihm sterben und tödtlich
bedroht sind. Hierdurch haben sich die Künstler der reinsten und schönsten Wirkung
begeben, um den Hauptaccent auf die Darstellung des körperlichen Schmerzes
zu legen, was allerdings meisterhaft geschehen ist. Damit ist der schwächste
Punkt der Gruppe berührt: das seelische Leben wird nicht in Mitleidenschaft
gezogen und somit anch die tiefe seelische Wirkung aufgehoben. Nur einmal
ist es, als ob den Künstlern die Möglichkeit einer solchen aufdämmerte: der noch
unverwundete ältere Sohn schaut erschreckt auf den leidenden Vater, aber mehr
überrascht von dessen ungewohnter Schmerzensänßerung als tief ergriffen; ist
doch auch die Seele eines Knaben nicht das Centrum, in welchem alle Strahle,?
des Seelenlebens zusammenströmen könnten. Und so zieht dieser Antheil des
Knaben wie ein leiser Hauch über die Gruppe, während ein ganzer Sturm
von Empfindungen sich in der Seele des Vaters hätte zusammendrängen müssen.
Die Künstler haben so den Schwerpunkt ihrer Wirkung von der Seele in den
Körper verlegt, der hier nicht Dolmetscher des inneren Lebens ist, sondern selb¬
ständige Bedeutung beansprucht. Sie haben eine tragische Empfindung durch Dar¬
stellung körperlichen Leidens erreichen wollen und haben durch ausschließliche An¬
wendung dieses Mittels ihren höchsten Zweck verfehlt.

Setzt man sich über diesen Mangel hinweg, sowie über den anderen die
Ausführung betreffenden, die Aufstellung der drei Personen in einer Reihe,
so eröffnen sich in dieser Gruppe, uach Burckhardts treffendem Ausdruck, "Ab¬
gründe künstlerischer Weisheit". Hier sei nur auf die Mittel hingewiesen, durch
welche die Künstler die Concentration des Hauptinteresses auf den Vater erreichen.
Nicht nur durch sein körperliches Hervorragen wird er als die Hauptperson
bezeichnet, sondern die Schrecklichkeit des Leidens, die in ihm ihren höchsten
Ausdruck findet, ist es, welche ihn als das Centrum der Komposition ausweist.
Einen Augenblick vor der Lage, in welcher er sich befindet, und der Schmerz
droht uur, ist aber uoch nicht thatsächlich eingetreten; ein Augenblick nach dieser
Lage, und der Schmerz verschwindet in dem erlösenden Tode. Je entschiedener


Grenzboten it. 18S0. Is

und dennoch von der Gottheit um des höheren Zieles willen, der Erfüllung
des Schicksalsschlnsses wegen, dem er sich zwar ohne Wissen und Willen ent¬
gegenstellt, aber doch immerhin entgegenstellt, Getödtete, ist eine tragische Gestalt,
deren Bedeutung noch dadurch erhöht wird, daß in den Untergang des Vaters
auch noch die Kinder hineingezogen werden. Ist so der Gegenstand zweifellos
tragisch, so fragt es sich nun, was die Künstler daraus gemacht haben.

Da ist zuerst der erschütterndste Zug vollständig unbeachtet gelassen worden,
der Umstand, daß die Kinder mit dem Vater sterben und dieser Schmerz in der
Seele des Vaters, den eignen Schmerz überkommt, wiederklingen muß. Für
diesen Vater existirt aber nichts als sein eigner Schmerz, und zwar sein körper¬
licher; nichts in ihm läßt ahnen, daß seine Kinder neben ihm sterben und tödtlich
bedroht sind. Hierdurch haben sich die Künstler der reinsten und schönsten Wirkung
begeben, um den Hauptaccent auf die Darstellung des körperlichen Schmerzes
zu legen, was allerdings meisterhaft geschehen ist. Damit ist der schwächste
Punkt der Gruppe berührt: das seelische Leben wird nicht in Mitleidenschaft
gezogen und somit anch die tiefe seelische Wirkung aufgehoben. Nur einmal
ist es, als ob den Künstlern die Möglichkeit einer solchen aufdämmerte: der noch
unverwundete ältere Sohn schaut erschreckt auf den leidenden Vater, aber mehr
überrascht von dessen ungewohnter Schmerzensänßerung als tief ergriffen; ist
doch auch die Seele eines Knaben nicht das Centrum, in welchem alle Strahle,?
des Seelenlebens zusammenströmen könnten. Und so zieht dieser Antheil des
Knaben wie ein leiser Hauch über die Gruppe, während ein ganzer Sturm
von Empfindungen sich in der Seele des Vaters hätte zusammendrängen müssen.
Die Künstler haben so den Schwerpunkt ihrer Wirkung von der Seele in den
Körper verlegt, der hier nicht Dolmetscher des inneren Lebens ist, sondern selb¬
ständige Bedeutung beansprucht. Sie haben eine tragische Empfindung durch Dar¬
stellung körperlichen Leidens erreichen wollen und haben durch ausschließliche An¬
wendung dieses Mittels ihren höchsten Zweck verfehlt.

Setzt man sich über diesen Mangel hinweg, sowie über den anderen die
Ausführung betreffenden, die Aufstellung der drei Personen in einer Reihe,
so eröffnen sich in dieser Gruppe, uach Burckhardts treffendem Ausdruck, „Ab¬
gründe künstlerischer Weisheit". Hier sei nur auf die Mittel hingewiesen, durch
welche die Künstler die Concentration des Hauptinteresses auf den Vater erreichen.
Nicht nur durch sein körperliches Hervorragen wird er als die Hauptperson
bezeichnet, sondern die Schrecklichkeit des Leidens, die in ihm ihren höchsten
Ausdruck findet, ist es, welche ihn als das Centrum der Komposition ausweist.
Einen Augenblick vor der Lage, in welcher er sich befindet, und der Schmerz
droht uur, ist aber uoch nicht thatsächlich eingetreten; ein Augenblick nach dieser
Lage, und der Schmerz verschwindet in dem erlösenden Tode. Je entschiedener


Grenzboten it. 18S0. Is
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/117>, abgerufen am 22.07.2024.