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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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liegt die Sache anders; er hat eine Fülle von Mitteln, die Kraft und Grüße
der Gottheit zu schildern. Er kann das Entrinnen des Knaben motiviren, er
hat die Gunst des Zusammenhanges der Erzählung für sich. Dem bildende"
Künstler steht nur der eine Moment zur Verfügung, er kann nicht erklären und
motiviren als durch das, was wir sehen. Er muß also die Einheitlichkeit der
Handlung straffer ziehen und sich vor allem Episodischen hüten, das den Grund¬
ton stören, die Gesammtwirkung beeinträchtigen konnte. Es ist daher für das
Verständniß der bildnerischen Gruppe durchaus irrelevant, wenn nachgewiesen
wird, daß ein alter Dichter den einen Sohn entkommen läßt; der Bildhauer
ist, wenn er Künstler ist, kein Illustrator des Dichters, sondern schafft nach
den Gesetzen seiner eignen Kunst. So ist es hier geschehen. Soll die ganze
Höhe des Schrecklichen erreicht werden, so darf der Gedanke an die Möglichkeit
eines Entrinnens nur aufblitze", um alsbald durch die Vorstellung des göttlichen
Urhebers der Strafe zurückgedrängt zu werden. Daß er aber überhaupt auf-
tauchen kann, ist eine wesentliche Bereicherung in der Durcharbeitung der von
dein Künstler beabsichtigten Grundempfindung. Diese soll sicherlich die tragische
sein. Sie ist es jedoch uicht.

Es wird in neuerer Zeit geltend gemacht, auch diese Composition gehe auf
ein Drama zurück und zeige uns dessen Katastrophe. Laokoon habe sich im
Tempel gegen die Gottheit durch Entweihung vergangen; die Strafe sei aufge¬
schoben worden, bis die Söhne herangewachsen gewesen, um dann den Vater
durch Hereinziehung der Söhne um so härter zu treffen. Von Laokovns Ein¬
greifen am Tage vor Troja's Untergang sei dagegen keine Rede. Wäre dies
richtig, so. läge in der That eine Schuld, ein Verbrechen vor, welches seine
entsprechende, wenn auch raffinirt durchgeführte Strafe erhielte. Von einer
Tragik könnte alsdann gar keine Rede sein; eine verdiente Hinrichtung ist traurig,
erschütternd, aber nicht tragisch. Bleiben wir dagegen bei der früheren Auffas¬
sung, so verhält sich die Sache anders. Laokoon fürchtet dem Geschenk der
Griechen gegenüber Verrath, er greift ein, getrieben von glühender Vaterlands¬
liebe. Sein Auftreten ist durchaus berechtigt, unsere Sympathie ist ans seiner
Seite. Er läßt sich aber soweit hinreißen, daß er das als Heiligthum bezeich¬
nete Pferd verletzt. Fast wird der Betrug enthüllt, und damit wäre ein Ein¬
griff in deu Willen der Gottheit geschehen, welche, dem Schicksalsschluß entspre¬
chend, den Untergang der Stadt befördert und nichts Störendes dulden darf.
Da räumt sie rücksichtslos, wie es der Gang des ehernen Schicksals erheischt,
das Hinderniß weg; das individuell Berechtigte, vou unserer Sympathie Beglei¬
tete muß vor dem Allgemeingiltigen weichen und, da es dnrch einseitige Beto¬
nung seiner Berechtigung in den Gang des Ganzen eingreift, zu Grunde gehen.
Nicht Laokoon der Verbrecher, wohl aber Laokoon der Vaterlandsvertheidiger


liegt die Sache anders; er hat eine Fülle von Mitteln, die Kraft und Grüße
der Gottheit zu schildern. Er kann das Entrinnen des Knaben motiviren, er
hat die Gunst des Zusammenhanges der Erzählung für sich. Dem bildende«
Künstler steht nur der eine Moment zur Verfügung, er kann nicht erklären und
motiviren als durch das, was wir sehen. Er muß also die Einheitlichkeit der
Handlung straffer ziehen und sich vor allem Episodischen hüten, das den Grund¬
ton stören, die Gesammtwirkung beeinträchtigen konnte. Es ist daher für das
Verständniß der bildnerischen Gruppe durchaus irrelevant, wenn nachgewiesen
wird, daß ein alter Dichter den einen Sohn entkommen läßt; der Bildhauer
ist, wenn er Künstler ist, kein Illustrator des Dichters, sondern schafft nach
den Gesetzen seiner eignen Kunst. So ist es hier geschehen. Soll die ganze
Höhe des Schrecklichen erreicht werden, so darf der Gedanke an die Möglichkeit
eines Entrinnens nur aufblitze«, um alsbald durch die Vorstellung des göttlichen
Urhebers der Strafe zurückgedrängt zu werden. Daß er aber überhaupt auf-
tauchen kann, ist eine wesentliche Bereicherung in der Durcharbeitung der von
dein Künstler beabsichtigten Grundempfindung. Diese soll sicherlich die tragische
sein. Sie ist es jedoch uicht.

Es wird in neuerer Zeit geltend gemacht, auch diese Composition gehe auf
ein Drama zurück und zeige uns dessen Katastrophe. Laokoon habe sich im
Tempel gegen die Gottheit durch Entweihung vergangen; die Strafe sei aufge¬
schoben worden, bis die Söhne herangewachsen gewesen, um dann den Vater
durch Hereinziehung der Söhne um so härter zu treffen. Von Laokovns Ein¬
greifen am Tage vor Troja's Untergang sei dagegen keine Rede. Wäre dies
richtig, so. läge in der That eine Schuld, ein Verbrechen vor, welches seine
entsprechende, wenn auch raffinirt durchgeführte Strafe erhielte. Von einer
Tragik könnte alsdann gar keine Rede sein; eine verdiente Hinrichtung ist traurig,
erschütternd, aber nicht tragisch. Bleiben wir dagegen bei der früheren Auffas¬
sung, so verhält sich die Sache anders. Laokoon fürchtet dem Geschenk der
Griechen gegenüber Verrath, er greift ein, getrieben von glühender Vaterlands¬
liebe. Sein Auftreten ist durchaus berechtigt, unsere Sympathie ist ans seiner
Seite. Er läßt sich aber soweit hinreißen, daß er das als Heiligthum bezeich¬
nete Pferd verletzt. Fast wird der Betrug enthüllt, und damit wäre ein Ein¬
griff in deu Willen der Gottheit geschehen, welche, dem Schicksalsschluß entspre¬
chend, den Untergang der Stadt befördert und nichts Störendes dulden darf.
Da räumt sie rücksichtslos, wie es der Gang des ehernen Schicksals erheischt,
das Hinderniß weg; das individuell Berechtigte, vou unserer Sympathie Beglei¬
tete muß vor dem Allgemeingiltigen weichen und, da es dnrch einseitige Beto¬
nung seiner Berechtigung in den Gang des Ganzen eingreift, zu Grunde gehen.
Nicht Laokoon der Verbrecher, wohl aber Laokoon der Vaterlandsvertheidiger


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/116>, abgerufen am 22.07.2024.