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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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dar. Hier liegt in der That eine Schuld vor. Die Königin Dirke hat sich der
von ihrem Gemahl als Sklavin ins Haus gebrachten Antiope gegeuüber hart
und grausam gezeigt, so daß die Verzweifelnde endlich flieht. Sie findet auf
dem Kithäron bei Hirten Aufnahme, wird aber von der in bacchischer Lust eben
dort schwärmenden Dirke entdeckt. Die entlaufene Sklavin soll ihr Vergehen mit
dem Tode büßen, und mit ausgesuchter Grausamkeit wird sie dazu verurtheilt,
von einem wilden Stier, an dessen Hörner sie gebunden werden soll, zu Tode
geschleift zu werden. Schon machen sich zwei kräftige junge Hirten darau, dem
erhaltenen Befehle gemäß das Urtheil zu vollstrecken; da wird im letzten Augen¬
blicke entdeckt, daß eben diese Hirten die Zwillingssöhne der Antiope selbst sind,
welche diese, von ihrem Vater wegen ihrer heimlichen Hingebung an Zeus vom
Hause vertrieben, dereinst ans dem Kithäron geboren und einem Hirten anvertraut
hatte. Nun treten die Söhne als Rächer für die Leiden der Mutter auf, und
Dirke muß dieselbe Strafe erleiden, welche sie über Antiope verhängt hatte. Sie, die
kein Erbarmen gekannt hatte, wird nun erbarmungslos zu dein Stiere gerissen,
und während dieser in seiner Wildheit aufspringt und uoch einen Augenblick
von Amphions kräftigen Armen gebändigt wird, reißt Zethos das vergeblich
die Kniee des Amphion umfassende Weib mit roher Faust an deu Haaren heran,
um den bereits dem Stier um die Hörner geschlungenen Strick auch um sie zu
legen. Der nächste Augenblick zwingt in unsere Phantasie unsehlbar das Bild
des rasend fortspringeuden Stieres und des gräßlich dahingeschleiften, zertretenen,
geschundenen Weibes, das wir eben noch in höchster Blüthe der Schönheit sahen.
Daneben aber steht, in vollkommener Ruhe der Bestrafung zuschauend, ein
anderes Weib, Antiope, welche jetzt die ersehnte Rache erlangt hat und dieser
ihren vollen Lauf läßt.

Wo liegt in all diesem die Tragik? Eine Schuld ist hier thatsächlich vor¬
handen, die quälerische Mißhandlung einer Person, welche wenigstens der Dirke
gegenüber nichts verschuldet hat, und welche zudem als Sclavin sich nicht ver¬
theidigen kann, sondern jede Laune der grausamen Herrin über sich ergehen
lassen muß. Diese Schuld wird bestraft. Die Strafe ist furchtbar, aber sie
entspricht der Schuld deshalb, weil die hartherzige Königin dieselbe Strafe ver¬
hängt hatte. Es ist die einfache Wiedervergeltung; Schuld und Strafe ent¬
sprechen einander, und gerade deshalb ist eine tragische Empfindung nicht mög¬
lich. Von einer Berechtigung zu ihrem Handeln kann bei Dirke gleichfalls keine
Rede sein, wenigstens nicht in der Darstellung des plastischen Werkes. Ist
dieses einer Tragödie der Euripides nachgeschaffen, so konnte diese Dichtung,
deren tragische Heldin jedoch Antiope war, manche Motive enthalten, welche der
Dirke wenigstens irgend welche Berechtigung verleihen konnte, etwa begründete
Eifersucht ans die Selavin. Während aber der Dichter dies im Laufe der


dar. Hier liegt in der That eine Schuld vor. Die Königin Dirke hat sich der
von ihrem Gemahl als Sklavin ins Haus gebrachten Antiope gegeuüber hart
und grausam gezeigt, so daß die Verzweifelnde endlich flieht. Sie findet auf
dem Kithäron bei Hirten Aufnahme, wird aber von der in bacchischer Lust eben
dort schwärmenden Dirke entdeckt. Die entlaufene Sklavin soll ihr Vergehen mit
dem Tode büßen, und mit ausgesuchter Grausamkeit wird sie dazu verurtheilt,
von einem wilden Stier, an dessen Hörner sie gebunden werden soll, zu Tode
geschleift zu werden. Schon machen sich zwei kräftige junge Hirten darau, dem
erhaltenen Befehle gemäß das Urtheil zu vollstrecken; da wird im letzten Augen¬
blicke entdeckt, daß eben diese Hirten die Zwillingssöhne der Antiope selbst sind,
welche diese, von ihrem Vater wegen ihrer heimlichen Hingebung an Zeus vom
Hause vertrieben, dereinst ans dem Kithäron geboren und einem Hirten anvertraut
hatte. Nun treten die Söhne als Rächer für die Leiden der Mutter auf, und
Dirke muß dieselbe Strafe erleiden, welche sie über Antiope verhängt hatte. Sie, die
kein Erbarmen gekannt hatte, wird nun erbarmungslos zu dein Stiere gerissen,
und während dieser in seiner Wildheit aufspringt und uoch einen Augenblick
von Amphions kräftigen Armen gebändigt wird, reißt Zethos das vergeblich
die Kniee des Amphion umfassende Weib mit roher Faust an deu Haaren heran,
um den bereits dem Stier um die Hörner geschlungenen Strick auch um sie zu
legen. Der nächste Augenblick zwingt in unsere Phantasie unsehlbar das Bild
des rasend fortspringeuden Stieres und des gräßlich dahingeschleiften, zertretenen,
geschundenen Weibes, das wir eben noch in höchster Blüthe der Schönheit sahen.
Daneben aber steht, in vollkommener Ruhe der Bestrafung zuschauend, ein
anderes Weib, Antiope, welche jetzt die ersehnte Rache erlangt hat und dieser
ihren vollen Lauf läßt.

Wo liegt in all diesem die Tragik? Eine Schuld ist hier thatsächlich vor¬
handen, die quälerische Mißhandlung einer Person, welche wenigstens der Dirke
gegenüber nichts verschuldet hat, und welche zudem als Sclavin sich nicht ver¬
theidigen kann, sondern jede Laune der grausamen Herrin über sich ergehen
lassen muß. Diese Schuld wird bestraft. Die Strafe ist furchtbar, aber sie
entspricht der Schuld deshalb, weil die hartherzige Königin dieselbe Strafe ver¬
hängt hatte. Es ist die einfache Wiedervergeltung; Schuld und Strafe ent¬
sprechen einander, und gerade deshalb ist eine tragische Empfindung nicht mög¬
lich. Von einer Berechtigung zu ihrem Handeln kann bei Dirke gleichfalls keine
Rede sein, wenigstens nicht in der Darstellung des plastischen Werkes. Ist
dieses einer Tragödie der Euripides nachgeschaffen, so konnte diese Dichtung,
deren tragische Heldin jedoch Antiope war, manche Motive enthalten, welche der
Dirke wenigstens irgend welche Berechtigung verleihen konnte, etwa begründete
Eifersucht ans die Selavin. Während aber der Dichter dies im Laufe der


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[0113] dar. Hier liegt in der That eine Schuld vor. Die Königin Dirke hat sich der von ihrem Gemahl als Sklavin ins Haus gebrachten Antiope gegeuüber hart und grausam gezeigt, so daß die Verzweifelnde endlich flieht. Sie findet auf dem Kithäron bei Hirten Aufnahme, wird aber von der in bacchischer Lust eben dort schwärmenden Dirke entdeckt. Die entlaufene Sklavin soll ihr Vergehen mit dem Tode büßen, und mit ausgesuchter Grausamkeit wird sie dazu verurtheilt, von einem wilden Stier, an dessen Hörner sie gebunden werden soll, zu Tode geschleift zu werden. Schon machen sich zwei kräftige junge Hirten darau, dem erhaltenen Befehle gemäß das Urtheil zu vollstrecken; da wird im letzten Augen¬ blicke entdeckt, daß eben diese Hirten die Zwillingssöhne der Antiope selbst sind, welche diese, von ihrem Vater wegen ihrer heimlichen Hingebung an Zeus vom Hause vertrieben, dereinst ans dem Kithäron geboren und einem Hirten anvertraut hatte. Nun treten die Söhne als Rächer für die Leiden der Mutter auf, und Dirke muß dieselbe Strafe erleiden, welche sie über Antiope verhängt hatte. Sie, die kein Erbarmen gekannt hatte, wird nun erbarmungslos zu dein Stiere gerissen, und während dieser in seiner Wildheit aufspringt und uoch einen Augenblick von Amphions kräftigen Armen gebändigt wird, reißt Zethos das vergeblich die Kniee des Amphion umfassende Weib mit roher Faust an deu Haaren heran, um den bereits dem Stier um die Hörner geschlungenen Strick auch um sie zu legen. Der nächste Augenblick zwingt in unsere Phantasie unsehlbar das Bild des rasend fortspringeuden Stieres und des gräßlich dahingeschleiften, zertretenen, geschundenen Weibes, das wir eben noch in höchster Blüthe der Schönheit sahen. Daneben aber steht, in vollkommener Ruhe der Bestrafung zuschauend, ein anderes Weib, Antiope, welche jetzt die ersehnte Rache erlangt hat und dieser ihren vollen Lauf läßt. Wo liegt in all diesem die Tragik? Eine Schuld ist hier thatsächlich vor¬ handen, die quälerische Mißhandlung einer Person, welche wenigstens der Dirke gegenüber nichts verschuldet hat, und welche zudem als Sclavin sich nicht ver¬ theidigen kann, sondern jede Laune der grausamen Herrin über sich ergehen lassen muß. Diese Schuld wird bestraft. Die Strafe ist furchtbar, aber sie entspricht der Schuld deshalb, weil die hartherzige Königin dieselbe Strafe ver¬ hängt hatte. Es ist die einfache Wiedervergeltung; Schuld und Strafe ent¬ sprechen einander, und gerade deshalb ist eine tragische Empfindung nicht mög¬ lich. Von einer Berechtigung zu ihrem Handeln kann bei Dirke gleichfalls keine Rede sein, wenigstens nicht in der Darstellung des plastischen Werkes. Ist dieses einer Tragödie der Euripides nachgeschaffen, so konnte diese Dichtung, deren tragische Heldin jedoch Antiope war, manche Motive enthalten, welche der Dirke wenigstens irgend welche Berechtigung verleihen konnte, etwa begründete Eifersucht ans die Selavin. Während aber der Dichter dies im Laufe der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/113>, abgerufen am 22.07.2024.