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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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umb einzuwirken, wie er denn auch da, wo er es, seinem innersten Wesen
widersprechend, versucht hat, in der reformirten Kirche, der Gefahr nicht ent¬
gangen ist, gesetzliche Wege zu betreten und mit dem Verfahren des Katholi¬
zismus sich zu begegnen. Auf der andern Seite werden wir es aussprechen
müssen, daß da, wo die Bestrebungen des Protestantismus zur Realität ge¬
langen, wo seine Prinzipien in der Subjektivität Fleisch und Blut annehmen,
eine sittliche Befreiung und Reinigung der Persönlichkeit erzielt wird, der
gegenüber das durch den Katholizismus hervorgebrachte sittliche Leben als
einer niederen Ordnung angehörig erscheinen muß.

Vergegenwärtigen wir uns nun die materialen Faktoren, die den Gegen¬
satz beider Konfessionen bedingen, so werden wir die Ergebnisse bestätigt finden,
die wir bisjetzt gewonnen haben. Wenige Züge werden genügen, dem Bilde
die noch fehlende Bestimmtheit zu geben. Hier heilige Schrift, dort Tradition;
hier Rechtfertigung durch den Glauben, dort Rechtfertigung durch eignes Ver¬
dienst, das sind die Losungen, durch welche wir uns seit langer Zeit den Dis-
sensus beider Konfessionen verständlich zu machen suchen; und so sehr wir
davon überzeugt sind, daß diese krasse Formulirung nicht genau den dogmati¬
schen Lehrbestimmungen entspricht, so tragen wir doch kein Bedenken, an ihnen
festzuhalten, weil sie die maßgebenden Tendenzen im wesentlichen treu abspiegeln.

Es ist richtig, auch der Katholizismus leugnet nicht die Autorität der
heiligen Schrift, aber dieselbe ist ihm einer Ergänzung und Auslegung be¬
dürftig, welche sie von der durch das unfehlbare Lehramt sich vermittelnden
Tradition zu erwarten hat. Es ist der soziale Faktor, die Kirche, welche sich
gebieterisch zwischen die heilige Schrift und die einzelne Persönlichkeit stellt.
Es ist richtig, auch der Protestantismus verwirft nicht die Tradition, aber sie
ist ihm keine selbständige Quelle der Wahrheit, sondern eine nicht selten ge¬
trübte Entwickelung der biblischen Heilslehre, die wohl auf Pietät Anspruch
erheben darf, aber ebenso sehr auch der Kritik unterworfen ist. Es ist ferner
richtig, der Katholizismus legt die Rechtfertigung des Menschen in die Hand
der göttlichen Gnade, aber diese Rechtfertigung ist nicht als ein in sich abge¬
schlossener Akt, als Gerechtsprechuug gedacht, sondern als ein hier auf Erden
nie sich vollendender Prozeß der Gerechtmachung, dessen Anfang auf die aus¬
schließlich wirksame Gnade zurückgeführt wird, dessen Fortgang und Steigerung
aber der Mensch selbst durch sittliche Leistungen zu verdienen vermag. Ja auch
schon der eben erst durch die göttliche Gnade erregte Wille ist in der Lage, für
die Erlangung der rechtfertigenden, d. h. gerecht machenden Wirkungen, sich zu
stimmen und zu bereiten. Die Gerechtsprechung aber, also der Akt, den der
Protestantismus als Rechtfertigung bezeichnet, legt sich im Katholizismus für
die Getauften -- denn die Taufe vermittelt nur Vergebung aller bis zur Zeit


umb einzuwirken, wie er denn auch da, wo er es, seinem innersten Wesen
widersprechend, versucht hat, in der reformirten Kirche, der Gefahr nicht ent¬
gangen ist, gesetzliche Wege zu betreten und mit dem Verfahren des Katholi¬
zismus sich zu begegnen. Auf der andern Seite werden wir es aussprechen
müssen, daß da, wo die Bestrebungen des Protestantismus zur Realität ge¬
langen, wo seine Prinzipien in der Subjektivität Fleisch und Blut annehmen,
eine sittliche Befreiung und Reinigung der Persönlichkeit erzielt wird, der
gegenüber das durch den Katholizismus hervorgebrachte sittliche Leben als
einer niederen Ordnung angehörig erscheinen muß.

Vergegenwärtigen wir uns nun die materialen Faktoren, die den Gegen¬
satz beider Konfessionen bedingen, so werden wir die Ergebnisse bestätigt finden,
die wir bisjetzt gewonnen haben. Wenige Züge werden genügen, dem Bilde
die noch fehlende Bestimmtheit zu geben. Hier heilige Schrift, dort Tradition;
hier Rechtfertigung durch den Glauben, dort Rechtfertigung durch eignes Ver¬
dienst, das sind die Losungen, durch welche wir uns seit langer Zeit den Dis-
sensus beider Konfessionen verständlich zu machen suchen; und so sehr wir
davon überzeugt sind, daß diese krasse Formulirung nicht genau den dogmati¬
schen Lehrbestimmungen entspricht, so tragen wir doch kein Bedenken, an ihnen
festzuhalten, weil sie die maßgebenden Tendenzen im wesentlichen treu abspiegeln.

Es ist richtig, auch der Katholizismus leugnet nicht die Autorität der
heiligen Schrift, aber dieselbe ist ihm einer Ergänzung und Auslegung be¬
dürftig, welche sie von der durch das unfehlbare Lehramt sich vermittelnden
Tradition zu erwarten hat. Es ist der soziale Faktor, die Kirche, welche sich
gebieterisch zwischen die heilige Schrift und die einzelne Persönlichkeit stellt.
Es ist richtig, auch der Protestantismus verwirft nicht die Tradition, aber sie
ist ihm keine selbständige Quelle der Wahrheit, sondern eine nicht selten ge¬
trübte Entwickelung der biblischen Heilslehre, die wohl auf Pietät Anspruch
erheben darf, aber ebenso sehr auch der Kritik unterworfen ist. Es ist ferner
richtig, der Katholizismus legt die Rechtfertigung des Menschen in die Hand
der göttlichen Gnade, aber diese Rechtfertigung ist nicht als ein in sich abge¬
schlossener Akt, als Gerechtsprechuug gedacht, sondern als ein hier auf Erden
nie sich vollendender Prozeß der Gerechtmachung, dessen Anfang auf die aus¬
schließlich wirksame Gnade zurückgeführt wird, dessen Fortgang und Steigerung
aber der Mensch selbst durch sittliche Leistungen zu verdienen vermag. Ja auch
schon der eben erst durch die göttliche Gnade erregte Wille ist in der Lage, für
die Erlangung der rechtfertigenden, d. h. gerecht machenden Wirkungen, sich zu
stimmen und zu bereiten. Die Gerechtsprechung aber, also der Akt, den der
Protestantismus als Rechtfertigung bezeichnet, legt sich im Katholizismus für
die Getauften — denn die Taufe vermittelt nur Vergebung aller bis zur Zeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/99>, abgerufen am 23.07.2024.