Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

gleiten und erfüllen mögen, wie sie ja ursprünglich aus dem Geiste geboren
wurden, sie hat darüber keine Macht und ist daher geneigt, sich auf die Mini¬
malforderung zurückzuziehen, daß sie wenigstens nach ihrer sichtbaren Gestalt
zur Ausführung gelangen. Freilich wird sie dabei der Gefahr nicht entgehen,
daß ihre Augehörigen in der Verwirklichung dieser äußeren Leistungen ihr
Genüge finden. Dagegen werden wir auf der andern Seite willig zugeben
müssen, daß die Anheimgabe des religiös-sittlichen Elements in die Hände der
subjektiven Freiheit auf dem Gebiete des Protestantismus zwar oft zu inner¬
licher Vertiefung, nicht selten aber auch zu leichtfertiger Verflachung, vor allem
aber häufig zur Zerfahrenheit und Störung des Gemeinschaftslebens ausge¬
schlagen ist.

Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob wir einen Gegensatz zwischen
den beiden Konfessionen auch darin finden dürfen, daß etwa hier, im Katholi¬
zismus, der religiöse den moralischen Faktor, dort, innerhalb des Protestantis¬
mus, der moralische den religiösen Faktor überwogen habe. Es könnte so
scheinen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie der Katholizismus bewunderns¬
würdige Leistungen auf religiösem Gebiete hervorgebracht hat, in ausgezeichneten
Werken künstlerischen Schaffens, in Erzeugung fein organisirter Rechtsordnungen,
in der Komposition eines reichen, die Phantasie ansprechenden Kultus, in der
Veranstaltung von mancherlei Uebungen der Frömmigkeit; wie er dagegen dnrch
die Werthschätzung des Cölibats und des Klosterlebens das Gebiet der Sitt¬
lichkeit, wie es sich im häuslichen und bürgerlichen Daseinskreise entfaltet, herab¬
gedrückt hat; eine Herabsetzung, die auch durch die Erhebung der Ehe zum
Sakrament nicht ausgeglichen wird. Blicken wir auf den Protestantismus, so
sehen wir ihn fast in beschämender Weise zurückstehen an Produktionen un¬
mittelbar religiöser Natur, aber eine gesteigerte Kraft anf die Pflege des sitt¬
lichen Lebens in Haus und Staat verwenden, um diese Gebiete religiös zu
durchdringen und zu verklären. Wir stehen keinen Augenblick an, zu behaupten,
daß in dieser Thätigkeit, zumal in der Gestaltung christlichen Familienlebens,
der Protestantismus eine Innigkeit, Wärme und Tiefe sittlicher Beziehungen
hervorgebracht hat, wie sie der Katholizismus aus sich heraus zu erzeugen
nicht vermag.

Dennoch werden wir einige Beschränkungen hinzufügen müssen; denn es
unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Katholizismus im höheren Maße als
der Protestantismus, wenigstens in höherem Maße als der lutherische Prote¬
stantismus, eine sittliche Pädagogie über Volksmassen auszuüben im Stande
ist, wenn er auch freilich dabei dem Evangelium eine gesetzliche Fassung zu
geben genöthigt wird; während der Protestantismus in seinem Absehen auf die
einzelne Persönlichkeit Verzicht leisten muß, auf die Massen als solche destin-


gleiten und erfüllen mögen, wie sie ja ursprünglich aus dem Geiste geboren
wurden, sie hat darüber keine Macht und ist daher geneigt, sich auf die Mini¬
malforderung zurückzuziehen, daß sie wenigstens nach ihrer sichtbaren Gestalt
zur Ausführung gelangen. Freilich wird sie dabei der Gefahr nicht entgehen,
daß ihre Augehörigen in der Verwirklichung dieser äußeren Leistungen ihr
Genüge finden. Dagegen werden wir auf der andern Seite willig zugeben
müssen, daß die Anheimgabe des religiös-sittlichen Elements in die Hände der
subjektiven Freiheit auf dem Gebiete des Protestantismus zwar oft zu inner¬
licher Vertiefung, nicht selten aber auch zu leichtfertiger Verflachung, vor allem
aber häufig zur Zerfahrenheit und Störung des Gemeinschaftslebens ausge¬
schlagen ist.

Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob wir einen Gegensatz zwischen
den beiden Konfessionen auch darin finden dürfen, daß etwa hier, im Katholi¬
zismus, der religiöse den moralischen Faktor, dort, innerhalb des Protestantis¬
mus, der moralische den religiösen Faktor überwogen habe. Es könnte so
scheinen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie der Katholizismus bewunderns¬
würdige Leistungen auf religiösem Gebiete hervorgebracht hat, in ausgezeichneten
Werken künstlerischen Schaffens, in Erzeugung fein organisirter Rechtsordnungen,
in der Komposition eines reichen, die Phantasie ansprechenden Kultus, in der
Veranstaltung von mancherlei Uebungen der Frömmigkeit; wie er dagegen dnrch
die Werthschätzung des Cölibats und des Klosterlebens das Gebiet der Sitt¬
lichkeit, wie es sich im häuslichen und bürgerlichen Daseinskreise entfaltet, herab¬
gedrückt hat; eine Herabsetzung, die auch durch die Erhebung der Ehe zum
Sakrament nicht ausgeglichen wird. Blicken wir auf den Protestantismus, so
sehen wir ihn fast in beschämender Weise zurückstehen an Produktionen un¬
mittelbar religiöser Natur, aber eine gesteigerte Kraft anf die Pflege des sitt¬
lichen Lebens in Haus und Staat verwenden, um diese Gebiete religiös zu
durchdringen und zu verklären. Wir stehen keinen Augenblick an, zu behaupten,
daß in dieser Thätigkeit, zumal in der Gestaltung christlichen Familienlebens,
der Protestantismus eine Innigkeit, Wärme und Tiefe sittlicher Beziehungen
hervorgebracht hat, wie sie der Katholizismus aus sich heraus zu erzeugen
nicht vermag.

Dennoch werden wir einige Beschränkungen hinzufügen müssen; denn es
unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Katholizismus im höheren Maße als
der Protestantismus, wenigstens in höherem Maße als der lutherische Prote¬
stantismus, eine sittliche Pädagogie über Volksmassen auszuüben im Stande
ist, wenn er auch freilich dabei dem Evangelium eine gesetzliche Fassung zu
geben genöthigt wird; während der Protestantismus in seinem Absehen auf die
einzelne Persönlichkeit Verzicht leisten muß, auf die Massen als solche destin-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143153"/>
          <p xml:id="ID_316" prev="#ID_315"> gleiten und erfüllen mögen, wie sie ja ursprünglich aus dem Geiste geboren<lb/>
wurden, sie hat darüber keine Macht und ist daher geneigt, sich auf die Mini¬<lb/>
malforderung zurückzuziehen, daß sie wenigstens nach ihrer sichtbaren Gestalt<lb/>
zur Ausführung gelangen. Freilich wird sie dabei der Gefahr nicht entgehen,<lb/>
daß ihre Augehörigen in der Verwirklichung dieser äußeren Leistungen ihr<lb/>
Genüge finden. Dagegen werden wir auf der andern Seite willig zugeben<lb/>
müssen, daß die Anheimgabe des religiös-sittlichen Elements in die Hände der<lb/>
subjektiven Freiheit auf dem Gebiete des Protestantismus zwar oft zu inner¬<lb/>
licher Vertiefung, nicht selten aber auch zu leichtfertiger Verflachung, vor allem<lb/>
aber häufig zur Zerfahrenheit und Störung des Gemeinschaftslebens ausge¬<lb/>
schlagen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_317"> Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob wir einen Gegensatz zwischen<lb/>
den beiden Konfessionen auch darin finden dürfen, daß etwa hier, im Katholi¬<lb/>
zismus, der religiöse den moralischen Faktor, dort, innerhalb des Protestantis¬<lb/>
mus, der moralische den religiösen Faktor überwogen habe. Es könnte so<lb/>
scheinen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie der Katholizismus bewunderns¬<lb/>
würdige Leistungen auf religiösem Gebiete hervorgebracht hat, in ausgezeichneten<lb/>
Werken künstlerischen Schaffens, in Erzeugung fein organisirter Rechtsordnungen,<lb/>
in der Komposition eines reichen, die Phantasie ansprechenden Kultus, in der<lb/>
Veranstaltung von mancherlei Uebungen der Frömmigkeit; wie er dagegen dnrch<lb/>
die Werthschätzung des Cölibats und des Klosterlebens das Gebiet der Sitt¬<lb/>
lichkeit, wie es sich im häuslichen und bürgerlichen Daseinskreise entfaltet, herab¬<lb/>
gedrückt hat; eine Herabsetzung, die auch durch die Erhebung der Ehe zum<lb/>
Sakrament nicht ausgeglichen wird. Blicken wir auf den Protestantismus, so<lb/>
sehen wir ihn fast in beschämender Weise zurückstehen an Produktionen un¬<lb/>
mittelbar religiöser Natur, aber eine gesteigerte Kraft anf die Pflege des sitt¬<lb/>
lichen Lebens in Haus und Staat verwenden, um diese Gebiete religiös zu<lb/>
durchdringen und zu verklären. Wir stehen keinen Augenblick an, zu behaupten,<lb/>
daß in dieser Thätigkeit, zumal in der Gestaltung christlichen Familienlebens,<lb/>
der Protestantismus eine Innigkeit, Wärme und Tiefe sittlicher Beziehungen<lb/>
hervorgebracht hat, wie sie der Katholizismus aus sich heraus zu erzeugen<lb/>
nicht vermag.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_318" next="#ID_319"> Dennoch werden wir einige Beschränkungen hinzufügen müssen; denn es<lb/>
unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Katholizismus im höheren Maße als<lb/>
der Protestantismus, wenigstens in höherem Maße als der lutherische Prote¬<lb/>
stantismus, eine sittliche Pädagogie über Volksmassen auszuüben im Stande<lb/>
ist, wenn er auch freilich dabei dem Evangelium eine gesetzliche Fassung zu<lb/>
geben genöthigt wird; während der Protestantismus in seinem Absehen auf die<lb/>
einzelne Persönlichkeit Verzicht leisten muß, auf die Massen als solche destin-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0098] gleiten und erfüllen mögen, wie sie ja ursprünglich aus dem Geiste geboren wurden, sie hat darüber keine Macht und ist daher geneigt, sich auf die Mini¬ malforderung zurückzuziehen, daß sie wenigstens nach ihrer sichtbaren Gestalt zur Ausführung gelangen. Freilich wird sie dabei der Gefahr nicht entgehen, daß ihre Augehörigen in der Verwirklichung dieser äußeren Leistungen ihr Genüge finden. Dagegen werden wir auf der andern Seite willig zugeben müssen, daß die Anheimgabe des religiös-sittlichen Elements in die Hände der subjektiven Freiheit auf dem Gebiete des Protestantismus zwar oft zu inner¬ licher Vertiefung, nicht selten aber auch zu leichtfertiger Verflachung, vor allem aber häufig zur Zerfahrenheit und Störung des Gemeinschaftslebens ausge¬ schlagen ist. Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob wir einen Gegensatz zwischen den beiden Konfessionen auch darin finden dürfen, daß etwa hier, im Katholi¬ zismus, der religiöse den moralischen Faktor, dort, innerhalb des Protestantis¬ mus, der moralische den religiösen Faktor überwogen habe. Es könnte so scheinen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie der Katholizismus bewunderns¬ würdige Leistungen auf religiösem Gebiete hervorgebracht hat, in ausgezeichneten Werken künstlerischen Schaffens, in Erzeugung fein organisirter Rechtsordnungen, in der Komposition eines reichen, die Phantasie ansprechenden Kultus, in der Veranstaltung von mancherlei Uebungen der Frömmigkeit; wie er dagegen dnrch die Werthschätzung des Cölibats und des Klosterlebens das Gebiet der Sitt¬ lichkeit, wie es sich im häuslichen und bürgerlichen Daseinskreise entfaltet, herab¬ gedrückt hat; eine Herabsetzung, die auch durch die Erhebung der Ehe zum Sakrament nicht ausgeglichen wird. Blicken wir auf den Protestantismus, so sehen wir ihn fast in beschämender Weise zurückstehen an Produktionen un¬ mittelbar religiöser Natur, aber eine gesteigerte Kraft anf die Pflege des sitt¬ lichen Lebens in Haus und Staat verwenden, um diese Gebiete religiös zu durchdringen und zu verklären. Wir stehen keinen Augenblick an, zu behaupten, daß in dieser Thätigkeit, zumal in der Gestaltung christlichen Familienlebens, der Protestantismus eine Innigkeit, Wärme und Tiefe sittlicher Beziehungen hervorgebracht hat, wie sie der Katholizismus aus sich heraus zu erzeugen nicht vermag. Dennoch werden wir einige Beschränkungen hinzufügen müssen; denn es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der Katholizismus im höheren Maße als der Protestantismus, wenigstens in höherem Maße als der lutherische Prote¬ stantismus, eine sittliche Pädagogie über Volksmassen auszuüben im Stande ist, wenn er auch freilich dabei dem Evangelium eine gesetzliche Fassung zu geben genöthigt wird; während der Protestantismus in seinem Absehen auf die einzelne Persönlichkeit Verzicht leisten muß, auf die Massen als solche destin-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/98
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/98>, abgerufen am 23.07.2024.