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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Sattel, hier konnte man also nicht die Zustände der Gegenwart einem Systeme
in die Schuhe schieben, welches vor seiner, des Liberalismus, Herrschaft die
Geister geknechtet hätte. Und doch dieselben Erscheinungen wie in Norddeutsch¬
land, nur noch etwas schlimmer, allgemeiner. Man kennt das prächtige Ge¬
dicht Fritz Reuters: Hanne Unke. Da stoßt Jochen, der Sperlingsvater, das
jüngste seiner Jungen, weil es seinem Alter nach flügge sein müßte, unbarm¬
herzig aus dem Neste, unbekümmert um das fernere Schicksal des Verlassenen.
Aehnlich hat es der Liberalismus mit unserem Volke gemacht. Abstrakte Er¬
wägungen lehrten, daß politische, kirchliche und wirthschaftliche Freiheit das
höchste Gut im Staate sei, einzelne erleuchtete Köpfe fühlten sich selbst desselben
würdig; die große Masse des Volkes, tröstete man sich, werde schon die Frei¬
heit zum richtigen Gebrauche der Freiheit erziehen. Nun liegt es aber, wie der
Sperling, am Boden, preisgegeben der Ausplünderung des Stärkeren und
Schlaueren. Gerade das badische Volk, zusammengewürfelt und ohne eine
Geschichte, welche in ihm das Gefühl fester Zusammengehörigkeit hätte erzeugen
können, ohne den Patriotismus, den dieses Gefühl zu geben vermag, Hütte einer
langen Uebung, einer ernsten Erziehung zur Selbständigkeit bedurft, ehe es in
eine Lage gebracht wurde, in welcher es sich allein durch eigne Kraft erhalten
konnte. Nicht das liberale Prinzip als solches hat uns geschadet -- dies zu
behaupten liegt uns sehr fern --; geschadet hat uns, daß dieses Prinzip in
übereilter, unvermittelter, unpraktischer und leider oft genug auch in eigen¬
nütziger Weise zur Herrschaft gebracht worden ist.

Von diesem Standpunkte aus begrüßen wir die konservative Bewegung,
die sich jetzt so kräftig hier zu regen beginnt, mit Freude. Ihre Berechtigung
ist unzweifelhaft, in der Bevölkerung findet sie eine wärmere Sympathie, als
die Führer unserer liberalen Partei sich träumen lassen. Das Gegengewicht,
welches dadurch dem einseitigen, herrschsüchtigen, für die Zeichen und Leiden
der Zeit blinden Parteiregimente erwächst, kann für die legislative Thätigkeit
und für das Volk selbst nur von Vortheil sein. Daß die konservative Partei
innerhalb einer oder zweier Legislaturperioden einen bestimmenden Einfluß in
der zweiten Kammer erlangen sollte, ist ja undenkbar; dazu ist sie noch zu
sehr im Werden begriffen. Auch halten zu viele, die mit dem Liberalismus
zerfallen sind, sich fürs erste noch aus Scheu zurück. Aber die Gegenwirkung
wird stark genug sein, die liberale Partei in ihrem Schieben nach links auf¬
zuhalten, vielleicht sogar sie wieder mehr nach rechts zu drängen und ihr die
Augen über ihre seitherigen Fehler zu öffnen.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Hiithel K Herrmann in Leipzig-

Sattel, hier konnte man also nicht die Zustände der Gegenwart einem Systeme
in die Schuhe schieben, welches vor seiner, des Liberalismus, Herrschaft die
Geister geknechtet hätte. Und doch dieselben Erscheinungen wie in Norddeutsch¬
land, nur noch etwas schlimmer, allgemeiner. Man kennt das prächtige Ge¬
dicht Fritz Reuters: Hanne Unke. Da stoßt Jochen, der Sperlingsvater, das
jüngste seiner Jungen, weil es seinem Alter nach flügge sein müßte, unbarm¬
herzig aus dem Neste, unbekümmert um das fernere Schicksal des Verlassenen.
Aehnlich hat es der Liberalismus mit unserem Volke gemacht. Abstrakte Er¬
wägungen lehrten, daß politische, kirchliche und wirthschaftliche Freiheit das
höchste Gut im Staate sei, einzelne erleuchtete Köpfe fühlten sich selbst desselben
würdig; die große Masse des Volkes, tröstete man sich, werde schon die Frei¬
heit zum richtigen Gebrauche der Freiheit erziehen. Nun liegt es aber, wie der
Sperling, am Boden, preisgegeben der Ausplünderung des Stärkeren und
Schlaueren. Gerade das badische Volk, zusammengewürfelt und ohne eine
Geschichte, welche in ihm das Gefühl fester Zusammengehörigkeit hätte erzeugen
können, ohne den Patriotismus, den dieses Gefühl zu geben vermag, Hütte einer
langen Uebung, einer ernsten Erziehung zur Selbständigkeit bedurft, ehe es in
eine Lage gebracht wurde, in welcher es sich allein durch eigne Kraft erhalten
konnte. Nicht das liberale Prinzip als solches hat uns geschadet — dies zu
behaupten liegt uns sehr fern —; geschadet hat uns, daß dieses Prinzip in
übereilter, unvermittelter, unpraktischer und leider oft genug auch in eigen¬
nütziger Weise zur Herrschaft gebracht worden ist.

Von diesem Standpunkte aus begrüßen wir die konservative Bewegung,
die sich jetzt so kräftig hier zu regen beginnt, mit Freude. Ihre Berechtigung
ist unzweifelhaft, in der Bevölkerung findet sie eine wärmere Sympathie, als
die Führer unserer liberalen Partei sich träumen lassen. Das Gegengewicht,
welches dadurch dem einseitigen, herrschsüchtigen, für die Zeichen und Leiden
der Zeit blinden Parteiregimente erwächst, kann für die legislative Thätigkeit
und für das Volk selbst nur von Vortheil sein. Daß die konservative Partei
innerhalb einer oder zweier Legislaturperioden einen bestimmenden Einfluß in
der zweiten Kammer erlangen sollte, ist ja undenkbar; dazu ist sie noch zu
sehr im Werden begriffen. Auch halten zu viele, die mit dem Liberalismus
zerfallen sind, sich fürs erste noch aus Scheu zurück. Aber die Gegenwirkung
wird stark genug sein, die liberale Partei in ihrem Schieben nach links auf¬
zuhalten, vielleicht sogar sie wieder mehr nach rechts zu drängen und ihr die
Augen über ihre seitherigen Fehler zu öffnen.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hiithel K Herrmann in Leipzig-
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[0092] Sattel, hier konnte man also nicht die Zustände der Gegenwart einem Systeme in die Schuhe schieben, welches vor seiner, des Liberalismus, Herrschaft die Geister geknechtet hätte. Und doch dieselben Erscheinungen wie in Norddeutsch¬ land, nur noch etwas schlimmer, allgemeiner. Man kennt das prächtige Ge¬ dicht Fritz Reuters: Hanne Unke. Da stoßt Jochen, der Sperlingsvater, das jüngste seiner Jungen, weil es seinem Alter nach flügge sein müßte, unbarm¬ herzig aus dem Neste, unbekümmert um das fernere Schicksal des Verlassenen. Aehnlich hat es der Liberalismus mit unserem Volke gemacht. Abstrakte Er¬ wägungen lehrten, daß politische, kirchliche und wirthschaftliche Freiheit das höchste Gut im Staate sei, einzelne erleuchtete Köpfe fühlten sich selbst desselben würdig; die große Masse des Volkes, tröstete man sich, werde schon die Frei¬ heit zum richtigen Gebrauche der Freiheit erziehen. Nun liegt es aber, wie der Sperling, am Boden, preisgegeben der Ausplünderung des Stärkeren und Schlaueren. Gerade das badische Volk, zusammengewürfelt und ohne eine Geschichte, welche in ihm das Gefühl fester Zusammengehörigkeit hätte erzeugen können, ohne den Patriotismus, den dieses Gefühl zu geben vermag, Hütte einer langen Uebung, einer ernsten Erziehung zur Selbständigkeit bedurft, ehe es in eine Lage gebracht wurde, in welcher es sich allein durch eigne Kraft erhalten konnte. Nicht das liberale Prinzip als solches hat uns geschadet — dies zu behaupten liegt uns sehr fern —; geschadet hat uns, daß dieses Prinzip in übereilter, unvermittelter, unpraktischer und leider oft genug auch in eigen¬ nütziger Weise zur Herrschaft gebracht worden ist. Von diesem Standpunkte aus begrüßen wir die konservative Bewegung, die sich jetzt so kräftig hier zu regen beginnt, mit Freude. Ihre Berechtigung ist unzweifelhaft, in der Bevölkerung findet sie eine wärmere Sympathie, als die Führer unserer liberalen Partei sich träumen lassen. Das Gegengewicht, welches dadurch dem einseitigen, herrschsüchtigen, für die Zeichen und Leiden der Zeit blinden Parteiregimente erwächst, kann für die legislative Thätigkeit und für das Volk selbst nur von Vortheil sein. Daß die konservative Partei innerhalb einer oder zweier Legislaturperioden einen bestimmenden Einfluß in der zweiten Kammer erlangen sollte, ist ja undenkbar; dazu ist sie noch zu sehr im Werden begriffen. Auch halten zu viele, die mit dem Liberalismus zerfallen sind, sich fürs erste noch aus Scheu zurück. Aber die Gegenwirkung wird stark genug sein, die liberale Partei in ihrem Schieben nach links auf¬ zuhalten, vielleicht sogar sie wieder mehr nach rechts zu drängen und ihr die Augen über ihre seitherigen Fehler zu öffnen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hiithel K Herrmann in Leipzig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/92>, abgerufen am 23.07.2024.