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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Pflanzung kleinbürgerlicher Ehrbarkeit, gewerblicher Brauchbarkeit und der Her¬
stellung befriedigender, persönlicher Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter
sind die gegenwärtigen Zustände heillose, sondern auch vom Standpunkte des
allgemeinen, gesellschaftlichen Interesses an soliden Leistungen, an gewerblichen
Vorwärtsstreben, an freudigem bürgerlichen Schaffen. Der Mann, der sein
Gewerbe nur ungenügend erlernt hat, der des Interesses an seinem Fache er¬
mangelt, der die Gesammt-Angelegenheiten seines Gewerbes als Zopf betrachtet
und in der Existenz geregelter persönlicher Beziehungen zu seinen Gesellen und
Lehrlingen nur einen unerhörten Zwang erblicken würde -- ein solcher Mann
kann unmöglich den Ansprüchen auf volle Vertrauenswürdigkeit, auf eigenes
warmes Interesse an dem, "was er erschafft mit eigener Hand", auf Vorhan¬
densein des Sinnes für Veredelung seiner gewerblichen Thätigkeit gerecht
werden, er kann mit einem Worte nicht mehr ein lebendiges, seines Urtheiles
von Verantwortlichkeit sich bewußtes Glied der bürgerlich-wirthschaftlichen Ge¬
sammtheit sein; er ist vielmehr nur noch ein proletarisch disponirter, den
Schwankungen des Erwerbslebens preisgegebener Arbeiter, und, wenn er noch
so sehr den Schein wirthschaftlicher Selbständigkeit sich bewahrt hat. Die
moralische Selbständigkeit, das Beruhen auf sich selbst ist ihm eben abhanden
gekommen, und damit ist der entscheidende Schritt geschehen. Uebrigens ist ja
selbst diese scheinbare Selbständigkeit in einer unendlichen Menge von Fällen
schon nicht mehr vorhanden. Wer zählt die angeblichen "Meister", die in
Wahrheit Lohnarbeiter für Konfektionsgeschäfte, für Fabriken und Kommissio¬
näre aller Art geworden sind? Und selbst hiervon abgesehen, auch die Masse
der übrigen bietet kaum ein erfreulicheres Bild. Des inneren Halts beraubt,
den ihnen ehemals die Gewerbegenossenschaft darbot, sind sie mit wenig Aus¬
nahmen die Beute einer zügellosen, die Arbeit aufs tiefste entwerthenden Kon¬
kurrenz und einer nichtswürdigen Kredit- und Borgwirthschaft geworden, und
mit dem Wenigen, was ihnen geblieben, werden sie auch noch durch Strikes,
durch Geschäftskrisen, durch die verderbliche Ausdehnung des Submissionswesens,
durch rücksichtslose Handhabung des Prinzips der Gefängnißarbeit, durch die
Ausschreitungen des Hausirbetriebs 2e. in schwere Verluste hineingerissen. Male
man sich immer die Wirkung aller dieser Umstände recht grell aus -- dann
hat man ein annäherndes Bild von der heutigen wirthschaftlichen und sozialen
Lage des selbständigen Handwerkers. Daß diese aber wieder auf den Gesellen
und Lehrling zurückwirken muß, versteht sich von selbst.

Aber dies Alles ist das Schlimmste noch nicht. Dem Menschen ist es,
sobald er einmal die unterste gesellschaftliche Stufe überschritten hat, nicht
gegeben, ohne einen Zusammenhalt mit Genossen und ohne ein Ziel seines
Strebens existiren zu können, und wenn er diese Dinge nicht auf natürlichem


Pflanzung kleinbürgerlicher Ehrbarkeit, gewerblicher Brauchbarkeit und der Her¬
stellung befriedigender, persönlicher Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter
sind die gegenwärtigen Zustände heillose, sondern auch vom Standpunkte des
allgemeinen, gesellschaftlichen Interesses an soliden Leistungen, an gewerblichen
Vorwärtsstreben, an freudigem bürgerlichen Schaffen. Der Mann, der sein
Gewerbe nur ungenügend erlernt hat, der des Interesses an seinem Fache er¬
mangelt, der die Gesammt-Angelegenheiten seines Gewerbes als Zopf betrachtet
und in der Existenz geregelter persönlicher Beziehungen zu seinen Gesellen und
Lehrlingen nur einen unerhörten Zwang erblicken würde — ein solcher Mann
kann unmöglich den Ansprüchen auf volle Vertrauenswürdigkeit, auf eigenes
warmes Interesse an dem, „was er erschafft mit eigener Hand", auf Vorhan¬
densein des Sinnes für Veredelung seiner gewerblichen Thätigkeit gerecht
werden, er kann mit einem Worte nicht mehr ein lebendiges, seines Urtheiles
von Verantwortlichkeit sich bewußtes Glied der bürgerlich-wirthschaftlichen Ge¬
sammtheit sein; er ist vielmehr nur noch ein proletarisch disponirter, den
Schwankungen des Erwerbslebens preisgegebener Arbeiter, und, wenn er noch
so sehr den Schein wirthschaftlicher Selbständigkeit sich bewahrt hat. Die
moralische Selbständigkeit, das Beruhen auf sich selbst ist ihm eben abhanden
gekommen, und damit ist der entscheidende Schritt geschehen. Uebrigens ist ja
selbst diese scheinbare Selbständigkeit in einer unendlichen Menge von Fällen
schon nicht mehr vorhanden. Wer zählt die angeblichen „Meister", die in
Wahrheit Lohnarbeiter für Konfektionsgeschäfte, für Fabriken und Kommissio¬
näre aller Art geworden sind? Und selbst hiervon abgesehen, auch die Masse
der übrigen bietet kaum ein erfreulicheres Bild. Des inneren Halts beraubt,
den ihnen ehemals die Gewerbegenossenschaft darbot, sind sie mit wenig Aus¬
nahmen die Beute einer zügellosen, die Arbeit aufs tiefste entwerthenden Kon¬
kurrenz und einer nichtswürdigen Kredit- und Borgwirthschaft geworden, und
mit dem Wenigen, was ihnen geblieben, werden sie auch noch durch Strikes,
durch Geschäftskrisen, durch die verderbliche Ausdehnung des Submissionswesens,
durch rücksichtslose Handhabung des Prinzips der Gefängnißarbeit, durch die
Ausschreitungen des Hausirbetriebs 2e. in schwere Verluste hineingerissen. Male
man sich immer die Wirkung aller dieser Umstände recht grell aus — dann
hat man ein annäherndes Bild von der heutigen wirthschaftlichen und sozialen
Lage des selbständigen Handwerkers. Daß diese aber wieder auf den Gesellen
und Lehrling zurückwirken muß, versteht sich von selbst.

Aber dies Alles ist das Schlimmste noch nicht. Dem Menschen ist es,
sobald er einmal die unterste gesellschaftliche Stufe überschritten hat, nicht
gegeben, ohne einen Zusammenhalt mit Genossen und ohne ein Ziel seines
Strebens existiren zu können, und wenn er diese Dinge nicht auf natürlichem


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[0065] Pflanzung kleinbürgerlicher Ehrbarkeit, gewerblicher Brauchbarkeit und der Her¬ stellung befriedigender, persönlicher Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter sind die gegenwärtigen Zustände heillose, sondern auch vom Standpunkte des allgemeinen, gesellschaftlichen Interesses an soliden Leistungen, an gewerblichen Vorwärtsstreben, an freudigem bürgerlichen Schaffen. Der Mann, der sein Gewerbe nur ungenügend erlernt hat, der des Interesses an seinem Fache er¬ mangelt, der die Gesammt-Angelegenheiten seines Gewerbes als Zopf betrachtet und in der Existenz geregelter persönlicher Beziehungen zu seinen Gesellen und Lehrlingen nur einen unerhörten Zwang erblicken würde — ein solcher Mann kann unmöglich den Ansprüchen auf volle Vertrauenswürdigkeit, auf eigenes warmes Interesse an dem, „was er erschafft mit eigener Hand", auf Vorhan¬ densein des Sinnes für Veredelung seiner gewerblichen Thätigkeit gerecht werden, er kann mit einem Worte nicht mehr ein lebendiges, seines Urtheiles von Verantwortlichkeit sich bewußtes Glied der bürgerlich-wirthschaftlichen Ge¬ sammtheit sein; er ist vielmehr nur noch ein proletarisch disponirter, den Schwankungen des Erwerbslebens preisgegebener Arbeiter, und, wenn er noch so sehr den Schein wirthschaftlicher Selbständigkeit sich bewahrt hat. Die moralische Selbständigkeit, das Beruhen auf sich selbst ist ihm eben abhanden gekommen, und damit ist der entscheidende Schritt geschehen. Uebrigens ist ja selbst diese scheinbare Selbständigkeit in einer unendlichen Menge von Fällen schon nicht mehr vorhanden. Wer zählt die angeblichen „Meister", die in Wahrheit Lohnarbeiter für Konfektionsgeschäfte, für Fabriken und Kommissio¬ näre aller Art geworden sind? Und selbst hiervon abgesehen, auch die Masse der übrigen bietet kaum ein erfreulicheres Bild. Des inneren Halts beraubt, den ihnen ehemals die Gewerbegenossenschaft darbot, sind sie mit wenig Aus¬ nahmen die Beute einer zügellosen, die Arbeit aufs tiefste entwerthenden Kon¬ kurrenz und einer nichtswürdigen Kredit- und Borgwirthschaft geworden, und mit dem Wenigen, was ihnen geblieben, werden sie auch noch durch Strikes, durch Geschäftskrisen, durch die verderbliche Ausdehnung des Submissionswesens, durch rücksichtslose Handhabung des Prinzips der Gefängnißarbeit, durch die Ausschreitungen des Hausirbetriebs 2e. in schwere Verluste hineingerissen. Male man sich immer die Wirkung aller dieser Umstände recht grell aus — dann hat man ein annäherndes Bild von der heutigen wirthschaftlichen und sozialen Lage des selbständigen Handwerkers. Daß diese aber wieder auf den Gesellen und Lehrling zurückwirken muß, versteht sich von selbst. Aber dies Alles ist das Schlimmste noch nicht. Dem Menschen ist es, sobald er einmal die unterste gesellschaftliche Stufe überschritten hat, nicht gegeben, ohne einen Zusammenhalt mit Genossen und ohne ein Ziel seines Strebens existiren zu können, und wenn er diese Dinge nicht auf natürlichem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/65>, abgerufen am 23.07.2024.