Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

hatten nicht den geringsten Grund, in dem Lehrling etwas Anderes zu erblicken
als einen nach Kräften auszubeutenden jugendlichen Arbeiter, während andrer¬
seits die natürliche Folge hiervon wieder die war, daß kein halbwegs anständiger
Mensch mehr daran dachte, seinen Sohn zu einem Handwerker in die Lehre
zu geben, und daß der Lehrling selbst jede erste Gelegenheit benutzte, sich der
Lehre zu entziehen und sich selbst als "ausgelernt" zu proklamiren. Das
Gesellenwesen bot einen getreuen Spiegel dieser Zustände. Gesellen, die etwas
Ordentliches gelernt hatten, waren rare Vögel geworden, und solche, die
gar einem soliden bürgerlichen Haushalt angehörten und wohl auch das Interesse
des Meisters oder dasjenige des ganzen Gewerbes ein wenig berücksichtigten,
gab es kaum mehr. Um so größer waren die Ansprüche auf Lohn, Behand¬
lung und volle Freiheit, mit denen der neumodische Geselle -- der sich übrigens
lieber "Gehilfe" oder gar kurzweg "Arbeiter" tituliren ließ, ohne sich darüber
Gedanken zu machen, wie sehr er hiermit sich selber degradire -- vor seinen
Meister trat, und wollte dieser nicht ganz den kundgegebenen Wünschen ent¬
sprechen, so arbeitete der Herr Geselle immer noch lieber in der Fabrik, die
ihm doch wenigstens außerhalb der Arbeitsstunden jede wünschenswerthe Freiheit
ließ. Konnten aber unter solchen Umständen die Meister besser sein? Ein
fortwährend wachsender Prozentsatz derselben hat sich ja selbst schon aus halb¬
gelernten Lehrlingen und zügellosen, nur auf Lohnsteigerung und auf Abschaf¬
fung der "verfluchten Bedürfnislosigkeit" bedacht gewesenen Gesellen rekrutirt,
und kaum .Einer unter Vielen ist, der sich dem Drucke der Zeitverhältnisse ent¬
ziehen kann, d. h. der es zu hindern vermag, daß Gesellen und Lehrlinge wie
in einem Taubenschlage ein- und ausfliegen und bei jeder Gelegenheit höhnisch
zu verstehen geben, daß sie sich der vollen Schutzlosigkeit des Arbeitgebers anch
gegen die gröbsten, ruinösesten Kontraktbrüche vollkommen bewußt sind. Es
ist wahr, daß diese Dinge heute nicht mehr so stark in die Erscheinung treten wie
zu Anfang der siebziger Jahre, aber ihrem, in der Gemüthsbeschaffenheit der
Arbeiter beruhenden Wesen nach sind sie noch immer vorhanden, und auch die
allgemeine Durchführung von Gewerbegerichten wird das Uebel nur mildern,
aber nicht beseitigen können. Wie kann man da dem durchschnittlichen Meister
zumuthen, aus gemeinnütziger Gesinnung heraus einen total aussichtslosen
Kampf mit den umgebenden Verhältnissen aufzunehmen, statt es eben so zu
machen und den Gesellen wie den Lehrling nicht anders zu betrachten als wie
Menschen, mit denen er in einem, jeden Augenblick zu lösenden, Vertragsver¬
hältnisse stehe, um die er sich daher auch nicht weiter zu bekümmern brauche,
sondern die nur nach Kräften ausgenutzt, wo irgend möglich auch gedrückt und
geschunden werden müßten?

Aber das ist ja noch nicht Alles. Nicht allein vom Standpunkte der Fort-


hatten nicht den geringsten Grund, in dem Lehrling etwas Anderes zu erblicken
als einen nach Kräften auszubeutenden jugendlichen Arbeiter, während andrer¬
seits die natürliche Folge hiervon wieder die war, daß kein halbwegs anständiger
Mensch mehr daran dachte, seinen Sohn zu einem Handwerker in die Lehre
zu geben, und daß der Lehrling selbst jede erste Gelegenheit benutzte, sich der
Lehre zu entziehen und sich selbst als „ausgelernt" zu proklamiren. Das
Gesellenwesen bot einen getreuen Spiegel dieser Zustände. Gesellen, die etwas
Ordentliches gelernt hatten, waren rare Vögel geworden, und solche, die
gar einem soliden bürgerlichen Haushalt angehörten und wohl auch das Interesse
des Meisters oder dasjenige des ganzen Gewerbes ein wenig berücksichtigten,
gab es kaum mehr. Um so größer waren die Ansprüche auf Lohn, Behand¬
lung und volle Freiheit, mit denen der neumodische Geselle — der sich übrigens
lieber „Gehilfe" oder gar kurzweg „Arbeiter" tituliren ließ, ohne sich darüber
Gedanken zu machen, wie sehr er hiermit sich selber degradire — vor seinen
Meister trat, und wollte dieser nicht ganz den kundgegebenen Wünschen ent¬
sprechen, so arbeitete der Herr Geselle immer noch lieber in der Fabrik, die
ihm doch wenigstens außerhalb der Arbeitsstunden jede wünschenswerthe Freiheit
ließ. Konnten aber unter solchen Umständen die Meister besser sein? Ein
fortwährend wachsender Prozentsatz derselben hat sich ja selbst schon aus halb¬
gelernten Lehrlingen und zügellosen, nur auf Lohnsteigerung und auf Abschaf¬
fung der „verfluchten Bedürfnislosigkeit" bedacht gewesenen Gesellen rekrutirt,
und kaum .Einer unter Vielen ist, der sich dem Drucke der Zeitverhältnisse ent¬
ziehen kann, d. h. der es zu hindern vermag, daß Gesellen und Lehrlinge wie
in einem Taubenschlage ein- und ausfliegen und bei jeder Gelegenheit höhnisch
zu verstehen geben, daß sie sich der vollen Schutzlosigkeit des Arbeitgebers anch
gegen die gröbsten, ruinösesten Kontraktbrüche vollkommen bewußt sind. Es
ist wahr, daß diese Dinge heute nicht mehr so stark in die Erscheinung treten wie
zu Anfang der siebziger Jahre, aber ihrem, in der Gemüthsbeschaffenheit der
Arbeiter beruhenden Wesen nach sind sie noch immer vorhanden, und auch die
allgemeine Durchführung von Gewerbegerichten wird das Uebel nur mildern,
aber nicht beseitigen können. Wie kann man da dem durchschnittlichen Meister
zumuthen, aus gemeinnütziger Gesinnung heraus einen total aussichtslosen
Kampf mit den umgebenden Verhältnissen aufzunehmen, statt es eben so zu
machen und den Gesellen wie den Lehrling nicht anders zu betrachten als wie
Menschen, mit denen er in einem, jeden Augenblick zu lösenden, Vertragsver¬
hältnisse stehe, um die er sich daher auch nicht weiter zu bekümmern brauche,
sondern die nur nach Kräften ausgenutzt, wo irgend möglich auch gedrückt und
geschunden werden müßten?

Aber das ist ja noch nicht Alles. Nicht allein vom Standpunkte der Fort-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143119"/>
          <p xml:id="ID_208" prev="#ID_207"> hatten nicht den geringsten Grund, in dem Lehrling etwas Anderes zu erblicken<lb/>
als einen nach Kräften auszubeutenden jugendlichen Arbeiter, während andrer¬<lb/>
seits die natürliche Folge hiervon wieder die war, daß kein halbwegs anständiger<lb/>
Mensch mehr daran dachte, seinen Sohn zu einem Handwerker in die Lehre<lb/>
zu geben, und daß der Lehrling selbst jede erste Gelegenheit benutzte, sich der<lb/>
Lehre zu entziehen und sich selbst als &#x201E;ausgelernt" zu proklamiren. Das<lb/>
Gesellenwesen bot einen getreuen Spiegel dieser Zustände. Gesellen, die etwas<lb/>
Ordentliches gelernt hatten, waren rare Vögel geworden, und solche, die<lb/>
gar einem soliden bürgerlichen Haushalt angehörten und wohl auch das Interesse<lb/>
des Meisters oder dasjenige des ganzen Gewerbes ein wenig berücksichtigten,<lb/>
gab es kaum mehr. Um so größer waren die Ansprüche auf Lohn, Behand¬<lb/>
lung und volle Freiheit, mit denen der neumodische Geselle &#x2014; der sich übrigens<lb/>
lieber &#x201E;Gehilfe" oder gar kurzweg &#x201E;Arbeiter" tituliren ließ, ohne sich darüber<lb/>
Gedanken zu machen, wie sehr er hiermit sich selber degradire &#x2014; vor seinen<lb/>
Meister trat, und wollte dieser nicht ganz den kundgegebenen Wünschen ent¬<lb/>
sprechen, so arbeitete der Herr Geselle immer noch lieber in der Fabrik, die<lb/>
ihm doch wenigstens außerhalb der Arbeitsstunden jede wünschenswerthe Freiheit<lb/>
ließ. Konnten aber unter solchen Umständen die Meister besser sein? Ein<lb/>
fortwährend wachsender Prozentsatz derselben hat sich ja selbst schon aus halb¬<lb/>
gelernten Lehrlingen und zügellosen, nur auf Lohnsteigerung und auf Abschaf¬<lb/>
fung der &#x201E;verfluchten Bedürfnislosigkeit" bedacht gewesenen Gesellen rekrutirt,<lb/>
und kaum .Einer unter Vielen ist, der sich dem Drucke der Zeitverhältnisse ent¬<lb/>
ziehen kann, d. h. der es zu hindern vermag, daß Gesellen und Lehrlinge wie<lb/>
in einem Taubenschlage ein- und ausfliegen und bei jeder Gelegenheit höhnisch<lb/>
zu verstehen geben, daß sie sich der vollen Schutzlosigkeit des Arbeitgebers anch<lb/>
gegen die gröbsten, ruinösesten Kontraktbrüche vollkommen bewußt sind. Es<lb/>
ist wahr, daß diese Dinge heute nicht mehr so stark in die Erscheinung treten wie<lb/>
zu Anfang der siebziger Jahre, aber ihrem, in der Gemüthsbeschaffenheit der<lb/>
Arbeiter beruhenden Wesen nach sind sie noch immer vorhanden, und auch die<lb/>
allgemeine Durchführung von Gewerbegerichten wird das Uebel nur mildern,<lb/>
aber nicht beseitigen können. Wie kann man da dem durchschnittlichen Meister<lb/>
zumuthen, aus gemeinnütziger Gesinnung heraus einen total aussichtslosen<lb/>
Kampf mit den umgebenden Verhältnissen aufzunehmen, statt es eben so zu<lb/>
machen und den Gesellen wie den Lehrling nicht anders zu betrachten als wie<lb/>
Menschen, mit denen er in einem, jeden Augenblick zu lösenden, Vertragsver¬<lb/>
hältnisse stehe, um die er sich daher auch nicht weiter zu bekümmern brauche,<lb/>
sondern die nur nach Kräften ausgenutzt, wo irgend möglich auch gedrückt und<lb/>
geschunden werden müßten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_209" next="#ID_210"> Aber das ist ja noch nicht Alles. Nicht allein vom Standpunkte der Fort-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] hatten nicht den geringsten Grund, in dem Lehrling etwas Anderes zu erblicken als einen nach Kräften auszubeutenden jugendlichen Arbeiter, während andrer¬ seits die natürliche Folge hiervon wieder die war, daß kein halbwegs anständiger Mensch mehr daran dachte, seinen Sohn zu einem Handwerker in die Lehre zu geben, und daß der Lehrling selbst jede erste Gelegenheit benutzte, sich der Lehre zu entziehen und sich selbst als „ausgelernt" zu proklamiren. Das Gesellenwesen bot einen getreuen Spiegel dieser Zustände. Gesellen, die etwas Ordentliches gelernt hatten, waren rare Vögel geworden, und solche, die gar einem soliden bürgerlichen Haushalt angehörten und wohl auch das Interesse des Meisters oder dasjenige des ganzen Gewerbes ein wenig berücksichtigten, gab es kaum mehr. Um so größer waren die Ansprüche auf Lohn, Behand¬ lung und volle Freiheit, mit denen der neumodische Geselle — der sich übrigens lieber „Gehilfe" oder gar kurzweg „Arbeiter" tituliren ließ, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie sehr er hiermit sich selber degradire — vor seinen Meister trat, und wollte dieser nicht ganz den kundgegebenen Wünschen ent¬ sprechen, so arbeitete der Herr Geselle immer noch lieber in der Fabrik, die ihm doch wenigstens außerhalb der Arbeitsstunden jede wünschenswerthe Freiheit ließ. Konnten aber unter solchen Umständen die Meister besser sein? Ein fortwährend wachsender Prozentsatz derselben hat sich ja selbst schon aus halb¬ gelernten Lehrlingen und zügellosen, nur auf Lohnsteigerung und auf Abschaf¬ fung der „verfluchten Bedürfnislosigkeit" bedacht gewesenen Gesellen rekrutirt, und kaum .Einer unter Vielen ist, der sich dem Drucke der Zeitverhältnisse ent¬ ziehen kann, d. h. der es zu hindern vermag, daß Gesellen und Lehrlinge wie in einem Taubenschlage ein- und ausfliegen und bei jeder Gelegenheit höhnisch zu verstehen geben, daß sie sich der vollen Schutzlosigkeit des Arbeitgebers anch gegen die gröbsten, ruinösesten Kontraktbrüche vollkommen bewußt sind. Es ist wahr, daß diese Dinge heute nicht mehr so stark in die Erscheinung treten wie zu Anfang der siebziger Jahre, aber ihrem, in der Gemüthsbeschaffenheit der Arbeiter beruhenden Wesen nach sind sie noch immer vorhanden, und auch die allgemeine Durchführung von Gewerbegerichten wird das Uebel nur mildern, aber nicht beseitigen können. Wie kann man da dem durchschnittlichen Meister zumuthen, aus gemeinnütziger Gesinnung heraus einen total aussichtslosen Kampf mit den umgebenden Verhältnissen aufzunehmen, statt es eben so zu machen und den Gesellen wie den Lehrling nicht anders zu betrachten als wie Menschen, mit denen er in einem, jeden Augenblick zu lösenden, Vertragsver¬ hältnisse stehe, um die er sich daher auch nicht weiter zu bekümmern brauche, sondern die nur nach Kräften ausgenutzt, wo irgend möglich auch gedrückt und geschunden werden müßten? Aber das ist ja noch nicht Alles. Nicht allein vom Standpunkte der Fort-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/64>, abgerufen am 23.07.2024.