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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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keit, geschweige denn eine geschichtliche Nothwendigkeit vorhanden sei. Steht
dies aber fest, so tritt umgekehrt der Satz in seine Rechte, daß vom sozial¬
politischen Standpunkte aus ein selbständiges, kräftiges Kleingewerbe und damit
eine Mittelschicht zwischen dem Großbesitzer und dem besitzlosen Arbeiter schlechter¬
dings nicht zu entbehren ist, wenn nicht die bürgerliche Gesellschaft den furcht¬
barsten Erschütterungen ausgesetzt, ja fast mit Nothwendigkeit dem Abgrunde
der Sozialdemokratie entgegengetrieben werden soll. Jetzt aber, und damit
kommen wir zu dem zweiten der oben erwähnten Punkte, ist das Kleingewerbe
eben durch den Mangel an Organisation außer Stande, für die bürgerliche
Gesellschaft das zu leisten, was es zu leisten berufen und unter günstigeren
Umständen auch befähigt ist. Wohl ist es vorhanden und läßt sich noch nicht
so leicht völlig todtmachen, aber es ist selbst in einen Strudel hineingerissen,
welcher ihm und der ganzen Gesellschaft zum schwersten Unsegen gereicht; es
ist nicht allein nicht im Stande gewesen, auf dein Wege bloßer freier Ver¬
einigungen die nöthigen Formen und Einflüsse herzustellen, sondern es hat, wie
man wohl sagen darf, den Beweis geliefert, daß auf diesem Wege überhaupt
Nichts erreicht werden kann. Gefehlt hat es an jenen Vereinigungen durchaus
nicht; ein enges Netz von Gewerbevereinen, die in einigen deutschen Ländern in
einen Verband zusammengefaßt und von einer staatlichen Zentralstelle aus beein¬
flußt und angetrieben, nach Umständen auch unterstützt wurden, anch Landes¬
versammlungen abhielten, gemeinsame Anstalten ins Leben riefen ze., breitete
sich über ganz Deutschland aus, und die Summe gemeinnütziger Thätigkeit, die
in sehr vielen dieser Vereine entfaltet worden, ist gar nicht hoch genug anzu¬
schlagen. Aber, so nützlich die Gewerbevereine sich auch nach der Seite tech¬
nischer und allgemeiner Bildung hin erwiesen, so gänzlich machtlos haben sie
sich gerade nach der wesentlichsten Seite hin gezeigt: derjenigen moralischer
und sozialpolitischer Einflüsse. Alle ihre Thätigkeit (die übrigens, wie konstatirt
werden muß, namentlich nach dieser Seite hin eine vereinzelte, gelegentliche,
abgerissene war und blieb) konnte nichts daran ändern, daß der Stand der
Handwerker als solcher in immer größeren Verfall und demgemäß auch in
fortschreitende gesellschaftliche Mißachtung gerieth. Das Lehrlingswesen, welches,
seit es keine Korporationen gab, von niemandem mehr im öffentlichen Interesse
kontrolirt wurde, und in Betreff dessen die moderne Gewerbegesetzgebung zwar
allerhand gute Lehren, aber durchaus ungenügende Vorschriften gab (am liebsten
hätte ja die damals tonangebende Strömung bei Abfassung der Gewerbeord¬
nung von 1369 den "unzeitgemäßer" Abschnitt über Lehrlinge ganz weggelassen),
ging in solchem Maße zu Grunde, daß selbst jene Strömung die Nothwendig¬
keit einer besseren gesetzlichen Regelung desselben anerkennen mußte; gerade die
besseren Meister wollten überhaupt keine Lehrlinge mehr nehmen, und die übrigen


keit, geschweige denn eine geschichtliche Nothwendigkeit vorhanden sei. Steht
dies aber fest, so tritt umgekehrt der Satz in seine Rechte, daß vom sozial¬
politischen Standpunkte aus ein selbständiges, kräftiges Kleingewerbe und damit
eine Mittelschicht zwischen dem Großbesitzer und dem besitzlosen Arbeiter schlechter¬
dings nicht zu entbehren ist, wenn nicht die bürgerliche Gesellschaft den furcht¬
barsten Erschütterungen ausgesetzt, ja fast mit Nothwendigkeit dem Abgrunde
der Sozialdemokratie entgegengetrieben werden soll. Jetzt aber, und damit
kommen wir zu dem zweiten der oben erwähnten Punkte, ist das Kleingewerbe
eben durch den Mangel an Organisation außer Stande, für die bürgerliche
Gesellschaft das zu leisten, was es zu leisten berufen und unter günstigeren
Umständen auch befähigt ist. Wohl ist es vorhanden und läßt sich noch nicht
so leicht völlig todtmachen, aber es ist selbst in einen Strudel hineingerissen,
welcher ihm und der ganzen Gesellschaft zum schwersten Unsegen gereicht; es
ist nicht allein nicht im Stande gewesen, auf dein Wege bloßer freier Ver¬
einigungen die nöthigen Formen und Einflüsse herzustellen, sondern es hat, wie
man wohl sagen darf, den Beweis geliefert, daß auf diesem Wege überhaupt
Nichts erreicht werden kann. Gefehlt hat es an jenen Vereinigungen durchaus
nicht; ein enges Netz von Gewerbevereinen, die in einigen deutschen Ländern in
einen Verband zusammengefaßt und von einer staatlichen Zentralstelle aus beein¬
flußt und angetrieben, nach Umständen auch unterstützt wurden, anch Landes¬
versammlungen abhielten, gemeinsame Anstalten ins Leben riefen ze., breitete
sich über ganz Deutschland aus, und die Summe gemeinnütziger Thätigkeit, die
in sehr vielen dieser Vereine entfaltet worden, ist gar nicht hoch genug anzu¬
schlagen. Aber, so nützlich die Gewerbevereine sich auch nach der Seite tech¬
nischer und allgemeiner Bildung hin erwiesen, so gänzlich machtlos haben sie
sich gerade nach der wesentlichsten Seite hin gezeigt: derjenigen moralischer
und sozialpolitischer Einflüsse. Alle ihre Thätigkeit (die übrigens, wie konstatirt
werden muß, namentlich nach dieser Seite hin eine vereinzelte, gelegentliche,
abgerissene war und blieb) konnte nichts daran ändern, daß der Stand der
Handwerker als solcher in immer größeren Verfall und demgemäß auch in
fortschreitende gesellschaftliche Mißachtung gerieth. Das Lehrlingswesen, welches,
seit es keine Korporationen gab, von niemandem mehr im öffentlichen Interesse
kontrolirt wurde, und in Betreff dessen die moderne Gewerbegesetzgebung zwar
allerhand gute Lehren, aber durchaus ungenügende Vorschriften gab (am liebsten
hätte ja die damals tonangebende Strömung bei Abfassung der Gewerbeord¬
nung von 1369 den „unzeitgemäßer" Abschnitt über Lehrlinge ganz weggelassen),
ging in solchem Maße zu Grunde, daß selbst jene Strömung die Nothwendig¬
keit einer besseren gesetzlichen Regelung desselben anerkennen mußte; gerade die
besseren Meister wollten überhaupt keine Lehrlinge mehr nehmen, und die übrigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/63>, abgerufen am 23.07.2024.