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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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wenden Zünftler die Rede sei; Schriften erschienen, in denen der Gedanke
näher entwickelt und im Zusammenhange mit den gewerblichen Fragen und
Erscheinungen unserer Zeit behandelt wurde, bezügliche Anträge wurden im
Reichstage gestellt, Konferenzen und öffentliche Verhandlungen fanden über die
Angelegenheit statt, und immer weitere Kreise erkannten, daß man es Hier nicht
nur mit einer weitverbreiteten und geistig bedeutenden, sondern auch mit einer
(abgesehen von erklärlichen Ausschreitungen) durchaus zeitgemäßen Bewegung
zu thun habe. Der Prozeß, in diesem Sinne die Bewegung zu würdigen und
zu ihr Stellung zu nehmen, ist heute noch nicht abgeschlossen. Selbst die hand¬
werklichen Kreise wissen zum großen Theile noch kaum etwas von der sie so
tief berührenden Sache und verhalten sich in ihrer Majorität noch ziemlich
gleichgiltig dagegen, und der übrige Theil des großen Publikums läßt sich
mit einigem Murren und mißtrauischem Naserümpfen die Sache gefallen, seit
dieselbe nun einmal sowohl seitens der Partei, als seitens der Regierung
eine Art offizieller Weihe erhalten hat, legt ihr aber keinen großen Werth bei
und ist ihr im Grunde des Herzens eigentlich abgeneigt. Selbst die konserva¬
tiven Parteien, die doch das höchste Interesse dafür haben sollten, verhielten
sich im Großen und Ganzen bis jetzt ziemlich apathisch. Welche Gründe ein
solches Verhalten erklärlich machen, haben wir oben angedeutet. Auf die Dauer
wird aber nicht daran vorbeizukommen sein, daß man in bewußter Weise und
auf sachliche Erwägungen gestützt, für oder wider Partei ergreife. Wir unserer¬
seits glauben, daß auch ein ziemlich fortgeschrittener Liberalismus sich mit der
Jnnungsbewegung sehr wohl wird befreunden können, wenn er auch vielleicht
genöthigt sein wird, ihr von vornherein bestimmte Grenzen zu ziehen; aber
weiterhin glauben wir allerdings, daß dieselbe zu einem sehr einschneidenden
Faktor in der Neugestaltung unseres Parteiwesens auf realerer Grundlage und
zu einem wesentlichen Schiboleth der Scheidung nationaler, positiver und vor¬
sichtig bemessener Ziele von kosmopolitischen, ungesunden und idealistisch ver¬
schwommenen Bestrebungen wird werden können. Wem freilich die Formen, die
der Liberalismus in Deutschland angenommen hat, nicht Mittel zur Erzielung
höherer Kultur und einer freier und edler gestalteten menschlichen Persönlichkeit,
sondern Selbstzweck geworden sind, der wird stets ein Feind der Jnnungsidee
bleiben, aber die gewonnene größere Klarheit wird auch in diesem Sinne nach
allen Seiten hin nur nützen.

Als die alten Zünfte in Deutschland zu Grabe getragen wurden, weinte
ihnen sicherlich niemand eine Thräne nach. Sie hatten es nicht verstanden,
sich mit unabweisbaren Zeitbedürfnissen in Einklang zu setzen, insbesondere nicht,
ihre Sache aus einer Privatangelegenheit der im Besitz befindlichen Zunft¬
meister zu einer allgemein gewerblichen Angelegenheit zu erheben. Mit Aus-


wenden Zünftler die Rede sei; Schriften erschienen, in denen der Gedanke
näher entwickelt und im Zusammenhange mit den gewerblichen Fragen und
Erscheinungen unserer Zeit behandelt wurde, bezügliche Anträge wurden im
Reichstage gestellt, Konferenzen und öffentliche Verhandlungen fanden über die
Angelegenheit statt, und immer weitere Kreise erkannten, daß man es Hier nicht
nur mit einer weitverbreiteten und geistig bedeutenden, sondern auch mit einer
(abgesehen von erklärlichen Ausschreitungen) durchaus zeitgemäßen Bewegung
zu thun habe. Der Prozeß, in diesem Sinne die Bewegung zu würdigen und
zu ihr Stellung zu nehmen, ist heute noch nicht abgeschlossen. Selbst die hand¬
werklichen Kreise wissen zum großen Theile noch kaum etwas von der sie so
tief berührenden Sache und verhalten sich in ihrer Majorität noch ziemlich
gleichgiltig dagegen, und der übrige Theil des großen Publikums läßt sich
mit einigem Murren und mißtrauischem Naserümpfen die Sache gefallen, seit
dieselbe nun einmal sowohl seitens der Partei, als seitens der Regierung
eine Art offizieller Weihe erhalten hat, legt ihr aber keinen großen Werth bei
und ist ihr im Grunde des Herzens eigentlich abgeneigt. Selbst die konserva¬
tiven Parteien, die doch das höchste Interesse dafür haben sollten, verhielten
sich im Großen und Ganzen bis jetzt ziemlich apathisch. Welche Gründe ein
solches Verhalten erklärlich machen, haben wir oben angedeutet. Auf die Dauer
wird aber nicht daran vorbeizukommen sein, daß man in bewußter Weise und
auf sachliche Erwägungen gestützt, für oder wider Partei ergreife. Wir unserer¬
seits glauben, daß auch ein ziemlich fortgeschrittener Liberalismus sich mit der
Jnnungsbewegung sehr wohl wird befreunden können, wenn er auch vielleicht
genöthigt sein wird, ihr von vornherein bestimmte Grenzen zu ziehen; aber
weiterhin glauben wir allerdings, daß dieselbe zu einem sehr einschneidenden
Faktor in der Neugestaltung unseres Parteiwesens auf realerer Grundlage und
zu einem wesentlichen Schiboleth der Scheidung nationaler, positiver und vor¬
sichtig bemessener Ziele von kosmopolitischen, ungesunden und idealistisch ver¬
schwommenen Bestrebungen wird werden können. Wem freilich die Formen, die
der Liberalismus in Deutschland angenommen hat, nicht Mittel zur Erzielung
höherer Kultur und einer freier und edler gestalteten menschlichen Persönlichkeit,
sondern Selbstzweck geworden sind, der wird stets ein Feind der Jnnungsidee
bleiben, aber die gewonnene größere Klarheit wird auch in diesem Sinne nach
allen Seiten hin nur nützen.

Als die alten Zünfte in Deutschland zu Grabe getragen wurden, weinte
ihnen sicherlich niemand eine Thräne nach. Sie hatten es nicht verstanden,
sich mit unabweisbaren Zeitbedürfnissen in Einklang zu setzen, insbesondere nicht,
ihre Sache aus einer Privatangelegenheit der im Besitz befindlichen Zunft¬
meister zu einer allgemein gewerblichen Angelegenheit zu erheben. Mit Aus-


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[0060] wenden Zünftler die Rede sei; Schriften erschienen, in denen der Gedanke näher entwickelt und im Zusammenhange mit den gewerblichen Fragen und Erscheinungen unserer Zeit behandelt wurde, bezügliche Anträge wurden im Reichstage gestellt, Konferenzen und öffentliche Verhandlungen fanden über die Angelegenheit statt, und immer weitere Kreise erkannten, daß man es Hier nicht nur mit einer weitverbreiteten und geistig bedeutenden, sondern auch mit einer (abgesehen von erklärlichen Ausschreitungen) durchaus zeitgemäßen Bewegung zu thun habe. Der Prozeß, in diesem Sinne die Bewegung zu würdigen und zu ihr Stellung zu nehmen, ist heute noch nicht abgeschlossen. Selbst die hand¬ werklichen Kreise wissen zum großen Theile noch kaum etwas von der sie so tief berührenden Sache und verhalten sich in ihrer Majorität noch ziemlich gleichgiltig dagegen, und der übrige Theil des großen Publikums läßt sich mit einigem Murren und mißtrauischem Naserümpfen die Sache gefallen, seit dieselbe nun einmal sowohl seitens der Partei, als seitens der Regierung eine Art offizieller Weihe erhalten hat, legt ihr aber keinen großen Werth bei und ist ihr im Grunde des Herzens eigentlich abgeneigt. Selbst die konserva¬ tiven Parteien, die doch das höchste Interesse dafür haben sollten, verhielten sich im Großen und Ganzen bis jetzt ziemlich apathisch. Welche Gründe ein solches Verhalten erklärlich machen, haben wir oben angedeutet. Auf die Dauer wird aber nicht daran vorbeizukommen sein, daß man in bewußter Weise und auf sachliche Erwägungen gestützt, für oder wider Partei ergreife. Wir unserer¬ seits glauben, daß auch ein ziemlich fortgeschrittener Liberalismus sich mit der Jnnungsbewegung sehr wohl wird befreunden können, wenn er auch vielleicht genöthigt sein wird, ihr von vornherein bestimmte Grenzen zu ziehen; aber weiterhin glauben wir allerdings, daß dieselbe zu einem sehr einschneidenden Faktor in der Neugestaltung unseres Parteiwesens auf realerer Grundlage und zu einem wesentlichen Schiboleth der Scheidung nationaler, positiver und vor¬ sichtig bemessener Ziele von kosmopolitischen, ungesunden und idealistisch ver¬ schwommenen Bestrebungen wird werden können. Wem freilich die Formen, die der Liberalismus in Deutschland angenommen hat, nicht Mittel zur Erzielung höherer Kultur und einer freier und edler gestalteten menschlichen Persönlichkeit, sondern Selbstzweck geworden sind, der wird stets ein Feind der Jnnungsidee bleiben, aber die gewonnene größere Klarheit wird auch in diesem Sinne nach allen Seiten hin nur nützen. Als die alten Zünfte in Deutschland zu Grabe getragen wurden, weinte ihnen sicherlich niemand eine Thräne nach. Sie hatten es nicht verstanden, sich mit unabweisbaren Zeitbedürfnissen in Einklang zu setzen, insbesondere nicht, ihre Sache aus einer Privatangelegenheit der im Besitz befindlichen Zunft¬ meister zu einer allgemein gewerblichen Angelegenheit zu erheben. Mit Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/60>, abgerufen am 23.07.2024.