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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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und seines großen Kanzlers auf die höchste Rangstufe gehobene Nation jedes¬
mal für ein ganzes Jahr mundtodt erklären wollte, während andere Nationen
in der Zwischenzeit ihre Stimme erheben würden -- und das vielleicht auch
in solchen Zeiten, wo der Rückhalt der öffentlichen Meinung, ausgesprochen in
der gesetzgebenden Vertretung des Volkes, für die Regierung felbst sehr wichtig
sein könnte. Bei einem großen, mächtigen, freien Volke -- und ein solches ist
das deutsche seit 1871 -- ist das jährliche Tagen seiner Gesainmtvertretung
etwas so Natürliches, Selbstverständliches und Nothwendiges, wie das regel¬
mäßige Ein- und Ausathmen beim Menschen."

Das sind, wie gesagt, leere Redensarten und hinkende Gleichnisse. Wenn
unser politisches Leben durch die Maßregel gesunder, wehrhaftiger und kräftiger
wird, wenn unsere Deputirten durch mehr Leben außerhalb des Kreises der
Parteidoktrin und innerhalb der Interessen des Volkes praktischer und natür¬
licher denken und reden lernen, wenn die Nation an dem Thun und Lassen
der Herren im Reichstage wieder mehr Theilnahme empfindet, so werden wir
dadurch keineswegs degradirt, sondern gehoben. Andere Völker, wie Frankreich,
England, Belgien, Holland u. s. w., sind mit uns in dieser Sache nicht zu ver¬
gleichen, weil sie keine doppelten Vertretungen, keine kleinen Parlamente neben
den großen haben. Von Mundtodtmachen der Nation durch Eingehen auf
den Vorschlag der Regierung kann in Wahrheit nicht die Rede sein; höchstens
könnte man von Schweigenmüssen der Parteien für ein Jahr sprechen, und
selbst das würde nur zum Theil richtig sein; denn man hätte ja inzwischen
die Zeitungen und die Preßfreiheit. Für die außergewöhnlichen Fälle aber,
welche der Artikel andeutet, bliebe der Regierung, die einen Rückhalt in der
öffentlichen Meinung bedürfte, selbstverständlich allezeit die Befugniß, den Reichs¬
tag zu einer außerordentlichen Session einzuberufen.

Nein, weder die Ehre, noch das Recht der Nation ist durch den in Rede
stehenden Vorschlag gefährdet, sondern die Klagen und Befürchtungen, denen
wir begegneten, haben ihren Grund einfach in der Angst gewisser eitler und
rühriger Parteiführer, es werde Natur in die Unnatur des Parteilebens kommen,
die Wirklichkeit werde sich gegenüber den in den Fraktionen gepflegten Theorieen
mehr geltend machen, und der Einfluß, die Herrschaft der Berliner Doktrinäre
werde geschwächt werden, wenn der größte Theil der Abgeordneten statt wie
bisher vier oder fünf, künftig sechzehn oder siebzehn Monate nicht in ihrer
Atmosphäre, sondern in frischer Luft, unter praktischen Menschen, in der Sphäre
des eigentlichen Volkes, nicht dessen, das auf der Tribüne und in der Presse
so heißt, verkehrte, beobachtete und sich darnach Urtheile bildete.

Aber noch ein anderer praktischer Grund, der sür die vorgeschlagene Ver¬
fassungsänderung geltend gemacht worden ist, scheint der Beachtung werth.


und seines großen Kanzlers auf die höchste Rangstufe gehobene Nation jedes¬
mal für ein ganzes Jahr mundtodt erklären wollte, während andere Nationen
in der Zwischenzeit ihre Stimme erheben würden — und das vielleicht auch
in solchen Zeiten, wo der Rückhalt der öffentlichen Meinung, ausgesprochen in
der gesetzgebenden Vertretung des Volkes, für die Regierung felbst sehr wichtig
sein könnte. Bei einem großen, mächtigen, freien Volke — und ein solches ist
das deutsche seit 1871 — ist das jährliche Tagen seiner Gesainmtvertretung
etwas so Natürliches, Selbstverständliches und Nothwendiges, wie das regel¬
mäßige Ein- und Ausathmen beim Menschen."

Das sind, wie gesagt, leere Redensarten und hinkende Gleichnisse. Wenn
unser politisches Leben durch die Maßregel gesunder, wehrhaftiger und kräftiger
wird, wenn unsere Deputirten durch mehr Leben außerhalb des Kreises der
Parteidoktrin und innerhalb der Interessen des Volkes praktischer und natür¬
licher denken und reden lernen, wenn die Nation an dem Thun und Lassen
der Herren im Reichstage wieder mehr Theilnahme empfindet, so werden wir
dadurch keineswegs degradirt, sondern gehoben. Andere Völker, wie Frankreich,
England, Belgien, Holland u. s. w., sind mit uns in dieser Sache nicht zu ver¬
gleichen, weil sie keine doppelten Vertretungen, keine kleinen Parlamente neben
den großen haben. Von Mundtodtmachen der Nation durch Eingehen auf
den Vorschlag der Regierung kann in Wahrheit nicht die Rede sein; höchstens
könnte man von Schweigenmüssen der Parteien für ein Jahr sprechen, und
selbst das würde nur zum Theil richtig sein; denn man hätte ja inzwischen
die Zeitungen und die Preßfreiheit. Für die außergewöhnlichen Fälle aber,
welche der Artikel andeutet, bliebe der Regierung, die einen Rückhalt in der
öffentlichen Meinung bedürfte, selbstverständlich allezeit die Befugniß, den Reichs¬
tag zu einer außerordentlichen Session einzuberufen.

Nein, weder die Ehre, noch das Recht der Nation ist durch den in Rede
stehenden Vorschlag gefährdet, sondern die Klagen und Befürchtungen, denen
wir begegneten, haben ihren Grund einfach in der Angst gewisser eitler und
rühriger Parteiführer, es werde Natur in die Unnatur des Parteilebens kommen,
die Wirklichkeit werde sich gegenüber den in den Fraktionen gepflegten Theorieen
mehr geltend machen, und der Einfluß, die Herrschaft der Berliner Doktrinäre
werde geschwächt werden, wenn der größte Theil der Abgeordneten statt wie
bisher vier oder fünf, künftig sechzehn oder siebzehn Monate nicht in ihrer
Atmosphäre, sondern in frischer Luft, unter praktischen Menschen, in der Sphäre
des eigentlichen Volkes, nicht dessen, das auf der Tribüne und in der Presse
so heißt, verkehrte, beobachtete und sich darnach Urtheile bildete.

Aber noch ein anderer praktischer Grund, der sür die vorgeschlagene Ver¬
fassungsänderung geltend gemacht worden ist, scheint der Beachtung werth.


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[0056] und seines großen Kanzlers auf die höchste Rangstufe gehobene Nation jedes¬ mal für ein ganzes Jahr mundtodt erklären wollte, während andere Nationen in der Zwischenzeit ihre Stimme erheben würden — und das vielleicht auch in solchen Zeiten, wo der Rückhalt der öffentlichen Meinung, ausgesprochen in der gesetzgebenden Vertretung des Volkes, für die Regierung felbst sehr wichtig sein könnte. Bei einem großen, mächtigen, freien Volke — und ein solches ist das deutsche seit 1871 — ist das jährliche Tagen seiner Gesainmtvertretung etwas so Natürliches, Selbstverständliches und Nothwendiges, wie das regel¬ mäßige Ein- und Ausathmen beim Menschen." Das sind, wie gesagt, leere Redensarten und hinkende Gleichnisse. Wenn unser politisches Leben durch die Maßregel gesunder, wehrhaftiger und kräftiger wird, wenn unsere Deputirten durch mehr Leben außerhalb des Kreises der Parteidoktrin und innerhalb der Interessen des Volkes praktischer und natür¬ licher denken und reden lernen, wenn die Nation an dem Thun und Lassen der Herren im Reichstage wieder mehr Theilnahme empfindet, so werden wir dadurch keineswegs degradirt, sondern gehoben. Andere Völker, wie Frankreich, England, Belgien, Holland u. s. w., sind mit uns in dieser Sache nicht zu ver¬ gleichen, weil sie keine doppelten Vertretungen, keine kleinen Parlamente neben den großen haben. Von Mundtodtmachen der Nation durch Eingehen auf den Vorschlag der Regierung kann in Wahrheit nicht die Rede sein; höchstens könnte man von Schweigenmüssen der Parteien für ein Jahr sprechen, und selbst das würde nur zum Theil richtig sein; denn man hätte ja inzwischen die Zeitungen und die Preßfreiheit. Für die außergewöhnlichen Fälle aber, welche der Artikel andeutet, bliebe der Regierung, die einen Rückhalt in der öffentlichen Meinung bedürfte, selbstverständlich allezeit die Befugniß, den Reichs¬ tag zu einer außerordentlichen Session einzuberufen. Nein, weder die Ehre, noch das Recht der Nation ist durch den in Rede stehenden Vorschlag gefährdet, sondern die Klagen und Befürchtungen, denen wir begegneten, haben ihren Grund einfach in der Angst gewisser eitler und rühriger Parteiführer, es werde Natur in die Unnatur des Parteilebens kommen, die Wirklichkeit werde sich gegenüber den in den Fraktionen gepflegten Theorieen mehr geltend machen, und der Einfluß, die Herrschaft der Berliner Doktrinäre werde geschwächt werden, wenn der größte Theil der Abgeordneten statt wie bisher vier oder fünf, künftig sechzehn oder siebzehn Monate nicht in ihrer Atmosphäre, sondern in frischer Luft, unter praktischen Menschen, in der Sphäre des eigentlichen Volkes, nicht dessen, das auf der Tribüne und in der Presse so heißt, verkehrte, beobachtete und sich darnach Urtheile bildete. Aber noch ein anderer praktischer Grund, der sür die vorgeschlagene Ver¬ fassungsänderung geltend gemacht worden ist, scheint der Beachtung werth.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/56>, abgerufen am 23.07.2024.