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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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mung folgt (das hat man sich freilich nicht blos wegen des Nichtendenwollens
der parlamentarischen Verhandlungen, sondern auch aus andern Gründen, z. B.
deshalb abgewöhnt, weil nicht viele Menschen an Opponiren unter allen Um¬
ständen, advokatenhafter Rechthaberei, vordringlicher und langathmiger Düftelei
und Silbenstecherei und ähnlichem Unfug so viel Wohlgefallen empfinden wie
gewisse Abgeordnete, welche die Hauptrolle im Stücke spielen und die meiste
Zeit für sich in Anspruch nehmen), da liegt auch der Konstitutionalismus in
den letzten Zügen, da repräsentiren die Volksvertretungen nicht mehr den Regie¬
rungen nebengeordnete, mit ihnen gleichberechtigte Faktoren. Es geht wirklich
nicht an, daß zahlreiche Männer acht bis neun Monate im Jahre aus den
parlamentarischen Geschäften nicht herauskommen, daß tüchtige Kräfte in solcher
Arbeit sich verbrauchen und verzetteln."

Das ist vollkommen begründet, und einiges Andere wird man auch nicht
in Abrede stellen können. Neben den jährlichen Sessionen des Reichstags gehen
Sitzungen der Sonderlandtage in Preußen, Baiern, Sachsen u. s. w. her,
welche die Kräfte eines großen Theils der Parlamentarier, die in jenem sitzen,
ebenfalls in Anspruch nehmen (von den preußischen Reichstagsabgeordneten
sind nicht weniger als einige neunzig zugleich Mitglieder des Landtags) und
die Bevölkerung weiter mit parlamentarischen Dingen übersättigen, so daß sie
gegen diese fast unaufhörlich von den Zeitungen servirte Kost noch gleich giltig er
wird und sie in der Regel nur dann beachtet, wenn sie mit Skandal oder
wenigstens mit Derbheiten gewürzt ist. Die Abgeordneten bekommen endlich
bei dem langen Zusammensein in den Hauptstädten wenig mehr von den Pro¬
vinzen zu sehen, die sie vertreten, sie hören nicht mehr das Leben, sondern den
Parteigeist zu sich sprechen, sie verknöchern in der Theorie und Doktrin wie
Professoren in der Studirstube und Räthe am grünen Tische. Nach dem Plane
der Negierung soll dem gesteuert, sollen die Abgeordneten in den Stand gesetzt
werden, eine erheblich längere Zeit als jetzt von den parlamentarischen Ge¬
schäften auszuruhen, leiblich und geistig gesunde Luft draußen in der Welt zu
athmen und wieder Fühlung mit dem Volke, dessen Interessen sie wahrnehmen
sollen, zu gewinnen und sich zu bewahren, wenn die Einflüsse der Parteileitung
sich wieder geltend machen.

Dem gegenüber erscheint es als bloße Reihenfolge von großartig klingenden,
aber leeren Redensarten, wenn ein nationalliberales Blatt hervorhebt, daß alle
größeren Verfassungsstaaten und selbst die meisten kleineren, wie Belgien, die
Niederlande, die Schweiz, ihr Parlament jedes Jahr versammeln, und wenn
es im Hinblick darauf fortfährt: "Es hieße Deutschland gewissermaßen degra-
diren, wenn man seine Gleichstellung hierin mit jenen Staaten aufheben, wenn
man die deutsche Nation, diese durch die kraftvolle Politik Kaiser Wilhelms I.


mung folgt (das hat man sich freilich nicht blos wegen des Nichtendenwollens
der parlamentarischen Verhandlungen, sondern auch aus andern Gründen, z. B.
deshalb abgewöhnt, weil nicht viele Menschen an Opponiren unter allen Um¬
ständen, advokatenhafter Rechthaberei, vordringlicher und langathmiger Düftelei
und Silbenstecherei und ähnlichem Unfug so viel Wohlgefallen empfinden wie
gewisse Abgeordnete, welche die Hauptrolle im Stücke spielen und die meiste
Zeit für sich in Anspruch nehmen), da liegt auch der Konstitutionalismus in
den letzten Zügen, da repräsentiren die Volksvertretungen nicht mehr den Regie¬
rungen nebengeordnete, mit ihnen gleichberechtigte Faktoren. Es geht wirklich
nicht an, daß zahlreiche Männer acht bis neun Monate im Jahre aus den
parlamentarischen Geschäften nicht herauskommen, daß tüchtige Kräfte in solcher
Arbeit sich verbrauchen und verzetteln."

Das ist vollkommen begründet, und einiges Andere wird man auch nicht
in Abrede stellen können. Neben den jährlichen Sessionen des Reichstags gehen
Sitzungen der Sonderlandtage in Preußen, Baiern, Sachsen u. s. w. her,
welche die Kräfte eines großen Theils der Parlamentarier, die in jenem sitzen,
ebenfalls in Anspruch nehmen (von den preußischen Reichstagsabgeordneten
sind nicht weniger als einige neunzig zugleich Mitglieder des Landtags) und
die Bevölkerung weiter mit parlamentarischen Dingen übersättigen, so daß sie
gegen diese fast unaufhörlich von den Zeitungen servirte Kost noch gleich giltig er
wird und sie in der Regel nur dann beachtet, wenn sie mit Skandal oder
wenigstens mit Derbheiten gewürzt ist. Die Abgeordneten bekommen endlich
bei dem langen Zusammensein in den Hauptstädten wenig mehr von den Pro¬
vinzen zu sehen, die sie vertreten, sie hören nicht mehr das Leben, sondern den
Parteigeist zu sich sprechen, sie verknöchern in der Theorie und Doktrin wie
Professoren in der Studirstube und Räthe am grünen Tische. Nach dem Plane
der Negierung soll dem gesteuert, sollen die Abgeordneten in den Stand gesetzt
werden, eine erheblich längere Zeit als jetzt von den parlamentarischen Ge¬
schäften auszuruhen, leiblich und geistig gesunde Luft draußen in der Welt zu
athmen und wieder Fühlung mit dem Volke, dessen Interessen sie wahrnehmen
sollen, zu gewinnen und sich zu bewahren, wenn die Einflüsse der Parteileitung
sich wieder geltend machen.

Dem gegenüber erscheint es als bloße Reihenfolge von großartig klingenden,
aber leeren Redensarten, wenn ein nationalliberales Blatt hervorhebt, daß alle
größeren Verfassungsstaaten und selbst die meisten kleineren, wie Belgien, die
Niederlande, die Schweiz, ihr Parlament jedes Jahr versammeln, und wenn
es im Hinblick darauf fortfährt: „Es hieße Deutschland gewissermaßen degra-
diren, wenn man seine Gleichstellung hierin mit jenen Staaten aufheben, wenn
man die deutsche Nation, diese durch die kraftvolle Politik Kaiser Wilhelms I.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/55>, abgerufen am 23.07.2024.