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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Gemeinden dahinlebten, bürgerliche Gewerbe, namentlich den Bierschcmk be¬
trieben, war so groß, daß die Visttatoren sich deshalb zu Absetzungen veranlaßt
sahen, wogegen man selbst beharrliche Papisten nicht wegschickte, ohne für ihren
Lebensunterhalt zu sorgen. Ueberall gab man bei nicht zu argen Fällen Zeit
zur Besserung; deun die junge Kirche konnte für jetzt bessere Kräfte nicht be¬
schaffen.

Trostlos war die materielle Lage der Geistlichen. Die Stiftungen waren
eingegangen und ihr Vermögen besonders vom Adel eingesäckelt worden. Je
mehr die Unkirchlichkeit einriß, desto geringer wurden die Einnahmen der Pfarrer,
und man dürfte froh sein, wenn man die kleinen Naturalbezüge, die Opfer- und
Meßpfennige und ähnliches wieder flüssig machen konnte, von denen jene dann
kümmerlich ihr Dasein fristeten. Baufällige Pfarrhäuser waren etwas ganz ge¬
wöhnliches, manche Orte besaßen gar kein Pfarrhaus, einige uicht einmal eine
Kirche, sodaß der Gottesdienst unter einem Baume abgehalten werden mußte.
Aecker und Wiesen waren bei mehreren Pfarren nicht mehr vorhanden, da die
Gemeinde sie bei günstiger Zeit verkauft hatte. Die Schulen lagen fast ganz
darnieder. Dorfschulen gab es äußerst wenige. Man war hier schon zufrieden,
wenn der Küster sich wöchentlich einmal der Kinder annahm. In Dubro lobten
die Bauern den ihrigen, aber es stellte sich heraus, daß er weder schreiben noch
lesen konnte. In den Städten versah meist der Stadtschreiber den Schuldienst.
In Schlieben gab es nur Abeceschützen, in Uebigau lag die Schule in Asche, in
Duden war sie ein ganzes Jahr nicht besucht worden. Nur in der kurfürstlichen
Residenz Torgau gab es eine gelehrte Schule nach Melcmthons Zuschnitt und
daneben eine Mädchenschule. Ju Betreff beider Waruten die Visttatoren vor
Ueberbürdung der Jugend, "damit sie des Lernens nicht überdrüssig würde".

Schlimmer als im Kurkreise lagen die Dinge in Meißen und im Vogt¬
lande. Diese Landestheile hatten 87 Pfarreien mit 238 Ortschaften, von denen
109 Kirchen oder Kapellen besaßen. Von den 96 Geistlichen, welche diese ver¬
sorgten, entsprachen den Anforderungen der Visitatoren nur 25, während 37
ziemlich gut, 11 leidlich befähigt waren und 21 gar nichts taugten. Etwa ein
Fünftel der Geistlichkeit war uoch dem Papismus ergeben, und dieses Fünftel
war ebenso sittenlos als unwissend. Diese Seelenhirten lebten meist mit "Köchinnen"
oder in wilder Ehe, nur ein einziger besaß eine rechtmäßige Frau; Michael
Kramer, der Prediger in Lucka, hatte sogar drei lebende Eheweiber, ohne von
zweien geschieden zu sein. Die Pfarreien wurden aufs gewissenloseste verwaltet.
Der Pfarrer in Oberledlau hatte drei Jahre laug das Messelesen und die Dar¬
reichung des Abendmahls unterlassen. In Fuchshain mit seinen 10 Filialen
war lange Zeit nicht gepredigt worden. Die Besoldung der Geistlichen war
dürftig, so daß sie sich mit Ackerbau und Viehzucht ernähren mußten, was sie


Gemeinden dahinlebten, bürgerliche Gewerbe, namentlich den Bierschcmk be¬
trieben, war so groß, daß die Visttatoren sich deshalb zu Absetzungen veranlaßt
sahen, wogegen man selbst beharrliche Papisten nicht wegschickte, ohne für ihren
Lebensunterhalt zu sorgen. Ueberall gab man bei nicht zu argen Fällen Zeit
zur Besserung; deun die junge Kirche konnte für jetzt bessere Kräfte nicht be¬
schaffen.

Trostlos war die materielle Lage der Geistlichen. Die Stiftungen waren
eingegangen und ihr Vermögen besonders vom Adel eingesäckelt worden. Je
mehr die Unkirchlichkeit einriß, desto geringer wurden die Einnahmen der Pfarrer,
und man dürfte froh sein, wenn man die kleinen Naturalbezüge, die Opfer- und
Meßpfennige und ähnliches wieder flüssig machen konnte, von denen jene dann
kümmerlich ihr Dasein fristeten. Baufällige Pfarrhäuser waren etwas ganz ge¬
wöhnliches, manche Orte besaßen gar kein Pfarrhaus, einige uicht einmal eine
Kirche, sodaß der Gottesdienst unter einem Baume abgehalten werden mußte.
Aecker und Wiesen waren bei mehreren Pfarren nicht mehr vorhanden, da die
Gemeinde sie bei günstiger Zeit verkauft hatte. Die Schulen lagen fast ganz
darnieder. Dorfschulen gab es äußerst wenige. Man war hier schon zufrieden,
wenn der Küster sich wöchentlich einmal der Kinder annahm. In Dubro lobten
die Bauern den ihrigen, aber es stellte sich heraus, daß er weder schreiben noch
lesen konnte. In den Städten versah meist der Stadtschreiber den Schuldienst.
In Schlieben gab es nur Abeceschützen, in Uebigau lag die Schule in Asche, in
Duden war sie ein ganzes Jahr nicht besucht worden. Nur in der kurfürstlichen
Residenz Torgau gab es eine gelehrte Schule nach Melcmthons Zuschnitt und
daneben eine Mädchenschule. Ju Betreff beider Waruten die Visttatoren vor
Ueberbürdung der Jugend, „damit sie des Lernens nicht überdrüssig würde".

Schlimmer als im Kurkreise lagen die Dinge in Meißen und im Vogt¬
lande. Diese Landestheile hatten 87 Pfarreien mit 238 Ortschaften, von denen
109 Kirchen oder Kapellen besaßen. Von den 96 Geistlichen, welche diese ver¬
sorgten, entsprachen den Anforderungen der Visitatoren nur 25, während 37
ziemlich gut, 11 leidlich befähigt waren und 21 gar nichts taugten. Etwa ein
Fünftel der Geistlichkeit war uoch dem Papismus ergeben, und dieses Fünftel
war ebenso sittenlos als unwissend. Diese Seelenhirten lebten meist mit „Köchinnen"
oder in wilder Ehe, nur ein einziger besaß eine rechtmäßige Frau; Michael
Kramer, der Prediger in Lucka, hatte sogar drei lebende Eheweiber, ohne von
zweien geschieden zu sein. Die Pfarreien wurden aufs gewissenloseste verwaltet.
Der Pfarrer in Oberledlau hatte drei Jahre laug das Messelesen und die Dar¬
reichung des Abendmahls unterlassen. In Fuchshain mit seinen 10 Filialen
war lange Zeit nicht gepredigt worden. Die Besoldung der Geistlichen war
dürftig, so daß sie sich mit Ackerbau und Viehzucht ernähren mußten, was sie


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[0540] Gemeinden dahinlebten, bürgerliche Gewerbe, namentlich den Bierschcmk be¬ trieben, war so groß, daß die Visttatoren sich deshalb zu Absetzungen veranlaßt sahen, wogegen man selbst beharrliche Papisten nicht wegschickte, ohne für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Ueberall gab man bei nicht zu argen Fällen Zeit zur Besserung; deun die junge Kirche konnte für jetzt bessere Kräfte nicht be¬ schaffen. Trostlos war die materielle Lage der Geistlichen. Die Stiftungen waren eingegangen und ihr Vermögen besonders vom Adel eingesäckelt worden. Je mehr die Unkirchlichkeit einriß, desto geringer wurden die Einnahmen der Pfarrer, und man dürfte froh sein, wenn man die kleinen Naturalbezüge, die Opfer- und Meßpfennige und ähnliches wieder flüssig machen konnte, von denen jene dann kümmerlich ihr Dasein fristeten. Baufällige Pfarrhäuser waren etwas ganz ge¬ wöhnliches, manche Orte besaßen gar kein Pfarrhaus, einige uicht einmal eine Kirche, sodaß der Gottesdienst unter einem Baume abgehalten werden mußte. Aecker und Wiesen waren bei mehreren Pfarren nicht mehr vorhanden, da die Gemeinde sie bei günstiger Zeit verkauft hatte. Die Schulen lagen fast ganz darnieder. Dorfschulen gab es äußerst wenige. Man war hier schon zufrieden, wenn der Küster sich wöchentlich einmal der Kinder annahm. In Dubro lobten die Bauern den ihrigen, aber es stellte sich heraus, daß er weder schreiben noch lesen konnte. In den Städten versah meist der Stadtschreiber den Schuldienst. In Schlieben gab es nur Abeceschützen, in Uebigau lag die Schule in Asche, in Duden war sie ein ganzes Jahr nicht besucht worden. Nur in der kurfürstlichen Residenz Torgau gab es eine gelehrte Schule nach Melcmthons Zuschnitt und daneben eine Mädchenschule. Ju Betreff beider Waruten die Visttatoren vor Ueberbürdung der Jugend, „damit sie des Lernens nicht überdrüssig würde". Schlimmer als im Kurkreise lagen die Dinge in Meißen und im Vogt¬ lande. Diese Landestheile hatten 87 Pfarreien mit 238 Ortschaften, von denen 109 Kirchen oder Kapellen besaßen. Von den 96 Geistlichen, welche diese ver¬ sorgten, entsprachen den Anforderungen der Visitatoren nur 25, während 37 ziemlich gut, 11 leidlich befähigt waren und 21 gar nichts taugten. Etwa ein Fünftel der Geistlichkeit war uoch dem Papismus ergeben, und dieses Fünftel war ebenso sittenlos als unwissend. Diese Seelenhirten lebten meist mit „Köchinnen" oder in wilder Ehe, nur ein einziger besaß eine rechtmäßige Frau; Michael Kramer, der Prediger in Lucka, hatte sogar drei lebende Eheweiber, ohne von zweien geschieden zu sein. Die Pfarreien wurden aufs gewissenloseste verwaltet. Der Pfarrer in Oberledlau hatte drei Jahre laug das Messelesen und die Dar¬ reichung des Abendmahls unterlassen. In Fuchshain mit seinen 10 Filialen war lange Zeit nicht gepredigt worden. Die Besoldung der Geistlichen war dürftig, so daß sie sich mit Ackerbau und Viehzucht ernähren mußten, was sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/540>, abgerufen am 23.07.2024.