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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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wahren Charakteristik der ethnographischen Eigenthümlichkeiten der Perser und
Gallier zeigt, so sehr unterscheiden sie sich, namentlich in der Gewand- und
Körperbehandlung, von den Skulpturen des neugefundenen Gigantenfrieses. Im
Vergleich zu dem gewaltigen Pathos, das die Gruppen desselben erfüllt, im
Vergleich zu der kühnen Formensprache, welche selbst den raffinirten Natura¬
lismus der Laokoongruppe übertrifft, ist der Realismus der athenischen Figuren
unverhältnißmäßig zahm. Wenn sich die Notiz Claracs, daß einige dieser
Statuen aus pentelischem Marmor bestehen, bewahrheiten sollte, werden
wir uns zu der Annahme bequemen müssen, daß die athenischen Weihgeschenke
des Attalos nicht aus der pergamenischen Schule hervorgegangen, sondern an
Ort und Stelle von athenischen Bildhauern angefertigt worden sind. Als
Attalos im Jahre 198 Athen besuchte, mögen sie vielleicht ihre Aufstellung auf
der Akropolis erhalten haben. Wann sie von dort entführt worden sind, wissen
wir nicht.

Auch die Reste eines zweiten dieser Weihgeschenke glaubt man in zwei
Statuen des Kapitals und der Villa Ludovisi in Rom entdeckt zu haben.
Die eine, unter dem Namen des "sterbenden Fechters" weltberühmt, ist längst
als ein sterbender Gallier erkannt worden. Die andere ging früher unter der
romantischen Bezeichnung "Arria und Palus"; wir wissen jetzt, daß auch sie
einen Gallier darstellt, welcher sein Weib tödtet, um es vor Schmach und Ge¬
fangenschaft zu retten. Ueber den Zusammenhang dieser beiden Werke mit einem
größeren ergeht man sich nur in Vermuthungen. Vielleicht gehörten sie zu
der Gruppe eines Tempelgiebels, und der "sterbende Fechter" würde dann
nach der Analogie der Aegineten den Endpunkt der Komposition gebildet haben.

Alle diese Reste werden völlig in den Schatten gestellt durch die neue¬
sten Funde der preußischen Schatzgräber, auf die wir nunmehr eingehen wollen,
indem wir zuerst die Geschichte ihrer Entdeckung in kurzen Zügen schildern.
Noch liegen die offiziellen Fundberichte nicht vor, und wir sind deshalb auf
die Mittheilungen beschränkt, welche ein Augenzeuge, Ernst Boretius, in der
National-Zeitung gemacht hat.

Ein westfälischer Ingenieur, Karl Humann, baute im Jahre 1865 im
Auftrage der türkischen Regierung eine Landstraße zwischen der kleinasiatischen
Stadt Bergama, die sich auf der Stätte des alten Pergamon erhebt, und dem
drei bis vier Meilen entfernten Hafenplatze Dikeli und beobachtete bei dieser
Gelegenheit, daß Türken, Armenier und Griechen ihren Bedarf an Marmor
für Treppen, Grabsteine u. tgi. von der nördlich von Bergama 156 Meter
über dem Meere gelegenen Akropolis des alten Pergamon bezogen. Ebenso
speisten auch Kalkbrennereien ihre Oefen mit dem dort lagernden Material.
Humann stellte ebenfalls Nachforschungen an, und er war bald so glücklich,


Grenzboten IV. 1379. 60

wahren Charakteristik der ethnographischen Eigenthümlichkeiten der Perser und
Gallier zeigt, so sehr unterscheiden sie sich, namentlich in der Gewand- und
Körperbehandlung, von den Skulpturen des neugefundenen Gigantenfrieses. Im
Vergleich zu dem gewaltigen Pathos, das die Gruppen desselben erfüllt, im
Vergleich zu der kühnen Formensprache, welche selbst den raffinirten Natura¬
lismus der Laokoongruppe übertrifft, ist der Realismus der athenischen Figuren
unverhältnißmäßig zahm. Wenn sich die Notiz Claracs, daß einige dieser
Statuen aus pentelischem Marmor bestehen, bewahrheiten sollte, werden
wir uns zu der Annahme bequemen müssen, daß die athenischen Weihgeschenke
des Attalos nicht aus der pergamenischen Schule hervorgegangen, sondern an
Ort und Stelle von athenischen Bildhauern angefertigt worden sind. Als
Attalos im Jahre 198 Athen besuchte, mögen sie vielleicht ihre Aufstellung auf
der Akropolis erhalten haben. Wann sie von dort entführt worden sind, wissen
wir nicht.

Auch die Reste eines zweiten dieser Weihgeschenke glaubt man in zwei
Statuen des Kapitals und der Villa Ludovisi in Rom entdeckt zu haben.
Die eine, unter dem Namen des „sterbenden Fechters" weltberühmt, ist längst
als ein sterbender Gallier erkannt worden. Die andere ging früher unter der
romantischen Bezeichnung „Arria und Palus"; wir wissen jetzt, daß auch sie
einen Gallier darstellt, welcher sein Weib tödtet, um es vor Schmach und Ge¬
fangenschaft zu retten. Ueber den Zusammenhang dieser beiden Werke mit einem
größeren ergeht man sich nur in Vermuthungen. Vielleicht gehörten sie zu
der Gruppe eines Tempelgiebels, und der „sterbende Fechter" würde dann
nach der Analogie der Aegineten den Endpunkt der Komposition gebildet haben.

Alle diese Reste werden völlig in den Schatten gestellt durch die neue¬
sten Funde der preußischen Schatzgräber, auf die wir nunmehr eingehen wollen,
indem wir zuerst die Geschichte ihrer Entdeckung in kurzen Zügen schildern.
Noch liegen die offiziellen Fundberichte nicht vor, und wir sind deshalb auf
die Mittheilungen beschränkt, welche ein Augenzeuge, Ernst Boretius, in der
National-Zeitung gemacht hat.

Ein westfälischer Ingenieur, Karl Humann, baute im Jahre 1865 im
Auftrage der türkischen Regierung eine Landstraße zwischen der kleinasiatischen
Stadt Bergama, die sich auf der Stätte des alten Pergamon erhebt, und dem
drei bis vier Meilen entfernten Hafenplatze Dikeli und beobachtete bei dieser
Gelegenheit, daß Türken, Armenier und Griechen ihren Bedarf an Marmor
für Treppen, Grabsteine u. tgi. von der nördlich von Bergama 156 Meter
über dem Meere gelegenen Akropolis des alten Pergamon bezogen. Ebenso
speisten auch Kalkbrennereien ihre Oefen mit dem dort lagernden Material.
Humann stellte ebenfalls Nachforschungen an, und er war bald so glücklich,


Grenzboten IV. 1379. 60
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[0461] wahren Charakteristik der ethnographischen Eigenthümlichkeiten der Perser und Gallier zeigt, so sehr unterscheiden sie sich, namentlich in der Gewand- und Körperbehandlung, von den Skulpturen des neugefundenen Gigantenfrieses. Im Vergleich zu dem gewaltigen Pathos, das die Gruppen desselben erfüllt, im Vergleich zu der kühnen Formensprache, welche selbst den raffinirten Natura¬ lismus der Laokoongruppe übertrifft, ist der Realismus der athenischen Figuren unverhältnißmäßig zahm. Wenn sich die Notiz Claracs, daß einige dieser Statuen aus pentelischem Marmor bestehen, bewahrheiten sollte, werden wir uns zu der Annahme bequemen müssen, daß die athenischen Weihgeschenke des Attalos nicht aus der pergamenischen Schule hervorgegangen, sondern an Ort und Stelle von athenischen Bildhauern angefertigt worden sind. Als Attalos im Jahre 198 Athen besuchte, mögen sie vielleicht ihre Aufstellung auf der Akropolis erhalten haben. Wann sie von dort entführt worden sind, wissen wir nicht. Auch die Reste eines zweiten dieser Weihgeschenke glaubt man in zwei Statuen des Kapitals und der Villa Ludovisi in Rom entdeckt zu haben. Die eine, unter dem Namen des „sterbenden Fechters" weltberühmt, ist längst als ein sterbender Gallier erkannt worden. Die andere ging früher unter der romantischen Bezeichnung „Arria und Palus"; wir wissen jetzt, daß auch sie einen Gallier darstellt, welcher sein Weib tödtet, um es vor Schmach und Ge¬ fangenschaft zu retten. Ueber den Zusammenhang dieser beiden Werke mit einem größeren ergeht man sich nur in Vermuthungen. Vielleicht gehörten sie zu der Gruppe eines Tempelgiebels, und der „sterbende Fechter" würde dann nach der Analogie der Aegineten den Endpunkt der Komposition gebildet haben. Alle diese Reste werden völlig in den Schatten gestellt durch die neue¬ sten Funde der preußischen Schatzgräber, auf die wir nunmehr eingehen wollen, indem wir zuerst die Geschichte ihrer Entdeckung in kurzen Zügen schildern. Noch liegen die offiziellen Fundberichte nicht vor, und wir sind deshalb auf die Mittheilungen beschränkt, welche ein Augenzeuge, Ernst Boretius, in der National-Zeitung gemacht hat. Ein westfälischer Ingenieur, Karl Humann, baute im Jahre 1865 im Auftrage der türkischen Regierung eine Landstraße zwischen der kleinasiatischen Stadt Bergama, die sich auf der Stätte des alten Pergamon erhebt, und dem drei bis vier Meilen entfernten Hafenplatze Dikeli und beobachtete bei dieser Gelegenheit, daß Türken, Armenier und Griechen ihren Bedarf an Marmor für Treppen, Grabsteine u. tgi. von der nördlich von Bergama 156 Meter über dem Meere gelegenen Akropolis des alten Pergamon bezogen. Ebenso speisten auch Kalkbrennereien ihre Oefen mit dem dort lagernden Material. Humann stellte ebenfalls Nachforschungen an, und er war bald so glücklich, Grenzboten IV. 1379. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/461>, abgerufen am 23.07.2024.