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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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erster Instanz wiederherstellt, natürlich mit umfänglicher Motivirung, oder aber
das zweiter Instanz bestätigt. Schade nur, daß dieser oberste Gerichtshof
nicht in xlsiuz sitzt und einen einzigen gemeinsamen Spruch fällt, sondern viel¬
mehr jeder der Herren Richter sein eigenes maßgebliches Urtheil publizirt.
So desavouirt eine Unfehlbarkeit die andere, und damit fällt die Bedeutung
der Kritik in sich zusammen, und das Publikum wird zur vierten Instanz,
welche wieder über die Einzelurtheile der Kritik richtet. Kritik, Kritik und
immer wieder Kritik! Ist es zu verwundern, daß das Publikum, dem in
dieser Weise die Richterrolle über die Virtuosenleistuugen aufgezwungen wird,
sich so an das Kritisiren gewohnt, daß es auch die Aufführung einer Beetho-
venschen Symphonie nicht mehr anhören kann, ohne sich in erster Linie immer
die Frage, ob die Aufführung eine gute, eine mustergiltige oder eine mäßige
ist, zu beantworten? An das Werk selbst denkt es kaum mehr. Ein
sestes Publikum mit erblichen Sitzen wie das der Leipziger Gewandhaus¬
concerte verwächst zudem so mit dem Orchester, daß es bei einer wohlgelungenen
Aufführung sich mit dem Bewußtsein schmeichelt: Ja, so können nur wir es!
Die Freude über das fast verschwindende Pianissimo der Streichinstrumente, das
allgewaltige Forte des Tutti, deu gleichmäßigen Strich der Geiger (der übrigens
hier längst zur Mythe geworden!) beschäftigt es hinlänglich, um darüber
Beethovens großartiges Meisterwerk ganz zu vergessen! Wehe den Armen, welche
vor dieser kalten Jury zu bestehen haben; wenn sie nicht schon sehr viel gute
Meinung vorfinden, so mögen sie sich Beethoven oder Mozart, Schumann oder
Mendelssohn zu Bundesgenossen wählen -- das Werk bezwingt dieses Publikum
nicht mehr, der Virtuose selbst muß es thun.

Und doch -- wie lenksam ist das große Publikum trotz seiner anerzogenen
Richterstrenge! Wie Teig läßt es sich kneten von seinen Meistern. Seine
Meister aber sind die Claque und die Reklame. Eine geschickt vorbereitete
Claque reißt das Publikum mit fort, daß es demselben Werke rauschenden
Beifall zollt, das es ein anderes Mal kalt abgelehnt hat, vorausgesetzt natür¬
lich, daß nicht eingefleischte Vorurtheile gegen den Namen des Komponisten
von vornherein die Majorität zu geschlossener Opposition geeinigt haben. Und
wie die Claque durch Überrumpelung, so wirkt die Reklame durch langsame
Umstimmung. Wie meisterhaft verstehen wir uns heute auch in Deutschland auf
die Reklame! Sie ist bei uns gefährlicher als bei den Franzosen, weil die Menge
bei uns noch harmlos genug ist, ihr zu glauben. Es ist lehrreich, zu verfolgen,
wie erst ganz von ferne und scheinbar durchaus absichtslos darauf hingearbeitet
wird, den Erfolg eines Virtuosen, einer Sängerin in einem langerhand vor¬
bereiteten Concert sicher zu stellen. Da taucht zuerst eine ganz unverfängliche
Notiz in den Lokalblättern auf, daß der oder die berühmte so und so in Be-


erster Instanz wiederherstellt, natürlich mit umfänglicher Motivirung, oder aber
das zweiter Instanz bestätigt. Schade nur, daß dieser oberste Gerichtshof
nicht in xlsiuz sitzt und einen einzigen gemeinsamen Spruch fällt, sondern viel¬
mehr jeder der Herren Richter sein eigenes maßgebliches Urtheil publizirt.
So desavouirt eine Unfehlbarkeit die andere, und damit fällt die Bedeutung
der Kritik in sich zusammen, und das Publikum wird zur vierten Instanz,
welche wieder über die Einzelurtheile der Kritik richtet. Kritik, Kritik und
immer wieder Kritik! Ist es zu verwundern, daß das Publikum, dem in
dieser Weise die Richterrolle über die Virtuosenleistuugen aufgezwungen wird,
sich so an das Kritisiren gewohnt, daß es auch die Aufführung einer Beetho-
venschen Symphonie nicht mehr anhören kann, ohne sich in erster Linie immer
die Frage, ob die Aufführung eine gute, eine mustergiltige oder eine mäßige
ist, zu beantworten? An das Werk selbst denkt es kaum mehr. Ein
sestes Publikum mit erblichen Sitzen wie das der Leipziger Gewandhaus¬
concerte verwächst zudem so mit dem Orchester, daß es bei einer wohlgelungenen
Aufführung sich mit dem Bewußtsein schmeichelt: Ja, so können nur wir es!
Die Freude über das fast verschwindende Pianissimo der Streichinstrumente, das
allgewaltige Forte des Tutti, deu gleichmäßigen Strich der Geiger (der übrigens
hier längst zur Mythe geworden!) beschäftigt es hinlänglich, um darüber
Beethovens großartiges Meisterwerk ganz zu vergessen! Wehe den Armen, welche
vor dieser kalten Jury zu bestehen haben; wenn sie nicht schon sehr viel gute
Meinung vorfinden, so mögen sie sich Beethoven oder Mozart, Schumann oder
Mendelssohn zu Bundesgenossen wählen — das Werk bezwingt dieses Publikum
nicht mehr, der Virtuose selbst muß es thun.

Und doch — wie lenksam ist das große Publikum trotz seiner anerzogenen
Richterstrenge! Wie Teig läßt es sich kneten von seinen Meistern. Seine
Meister aber sind die Claque und die Reklame. Eine geschickt vorbereitete
Claque reißt das Publikum mit fort, daß es demselben Werke rauschenden
Beifall zollt, das es ein anderes Mal kalt abgelehnt hat, vorausgesetzt natür¬
lich, daß nicht eingefleischte Vorurtheile gegen den Namen des Komponisten
von vornherein die Majorität zu geschlossener Opposition geeinigt haben. Und
wie die Claque durch Überrumpelung, so wirkt die Reklame durch langsame
Umstimmung. Wie meisterhaft verstehen wir uns heute auch in Deutschland auf
die Reklame! Sie ist bei uns gefährlicher als bei den Franzosen, weil die Menge
bei uns noch harmlos genug ist, ihr zu glauben. Es ist lehrreich, zu verfolgen,
wie erst ganz von ferne und scheinbar durchaus absichtslos darauf hingearbeitet
wird, den Erfolg eines Virtuosen, einer Sängerin in einem langerhand vor¬
bereiteten Concert sicher zu stellen. Da taucht zuerst eine ganz unverfängliche
Notiz in den Lokalblättern auf, daß der oder die berühmte so und so in Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/374>, abgerufen am 23.07.2024.