Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

und ungerecht sein, wollte man jene Meister darum herabsetzen, weil ihnen das
der Fassungskraft der Menge entsprechende zu einfach und reizlos erscheint
und sie so schreiben, daß ihre Werke ihnen selbst volle Geistesarbeit bieten.
Wagner darf der tonalen Einheit entbehren, weil er die Einheit des Kunstwerks
in der poetischen Idee sieht; seine Musik ist eben keine absolute Musik und darf
nicht mit derselben Elle gemessen werden wie diese. Brahms dagegen in seinen
Orchesterwerken muß allerdings diese Grundgesetze musikalischer Formgebung
anerkennen, aber er darf sich weitere Grenzen stecken, als sie üblich sind; er
wahrt die tomate Einheit, entfaltet aber in ihrem Banne eine Harmonie von
größter Freiheit. Das Schöne schön zu finden, ist nicht Sache des Geschmacks,
sondern des Verständnisses; dagegen ist es allerdings Geschmacksache, ob man
lieber Kunstwerke dieser oder jener Stilgattung sehen oder hören mag. Der
spätere Beethoven, Brahms, Wagner, Liszt müssen erst studirt sein, ehe man zu
ihnen Stellung nehmen kann; man kann erst dann sagen, man habe keine Lieb¬
haberei für ihre Werke, wenn man seine musikalische Hörfähigkeit soweit aus¬
gebildet hat, daß man die Faktur derselben übersieht. Kehrt man erst, nachdem
man ein lebhaftes Interesse für die verschränkten Bildungen der Neuzeit durch¬
gemacht hat, ermüdet und abgestumpft an den stärkenden Born frisch sprudelnden
musikalischen Empfindens eines Mozart zurück, so kann man sich von jedem
Vorwürfe der Parteilichkeit oder Bornirtheit freisprechen. Leider ist unserm
Publikum die Lust zum Lernen zumeist abhanden gekommen, und zwar darum,
weil es an ernsten und thatkräftigen Lehrern fehlt. Verhältnisse wie die Sonders¬
häuser, wo jahraus jahrein herrliche Orchesterleistungen geboten werden, ohne
daß das Interesse der Hörer durch gastirende Virtuosen abgelenkt wird, sind
so abnorme und seltene, daß sie fast ins Reich der Fabel zu gehören scheinen.
Dort ist wirklich ein lernendes Publikum, das einen Ueberblick über die sympho¬
nische Literatur der letzten hundert Jahre hat wie kaum ein zweites, und das
jedes neue Werk mit Freuden begrüßt, um es kennen zu lernen, aber nicht,
um es zu kritisiren. Das ist ja der Krebsschaden unserer musikalischen Ver¬
hältnisse, daß das Publikum in unseren Concertsälen und Opernhäusern richtet,
statt zu genießen! Es ist, statt einer Schaar gelehriger Schüler oder andächtiger
Gläubigen an die Hoheit der Kunst, eine Versammlung kleinlicher Splitterrichter,
einer Begeisterung nur noch sehr ausnahmsweise fähig, leider nicht immer zur
rechten Zeit, dagegen immer bereit, kategorisch zu verurtheilen. Daß es so ist,
können wir nur halb dem Verschulden des Publikums selbst beimessen, das ja
aus leicht begreiflicher Eitelkeit gern die Rolle einer höchsten Jury spielt, wenn
ihm dieselbe zugemuthet wird. Die Hauptschuld fällt ohne Frage auf die un¬
glückselige Konkurrenz der Virtuosen, welche um die Gunst des Publikums
buhlen und seine Kritik herausfordern.


und ungerecht sein, wollte man jene Meister darum herabsetzen, weil ihnen das
der Fassungskraft der Menge entsprechende zu einfach und reizlos erscheint
und sie so schreiben, daß ihre Werke ihnen selbst volle Geistesarbeit bieten.
Wagner darf der tonalen Einheit entbehren, weil er die Einheit des Kunstwerks
in der poetischen Idee sieht; seine Musik ist eben keine absolute Musik und darf
nicht mit derselben Elle gemessen werden wie diese. Brahms dagegen in seinen
Orchesterwerken muß allerdings diese Grundgesetze musikalischer Formgebung
anerkennen, aber er darf sich weitere Grenzen stecken, als sie üblich sind; er
wahrt die tomate Einheit, entfaltet aber in ihrem Banne eine Harmonie von
größter Freiheit. Das Schöne schön zu finden, ist nicht Sache des Geschmacks,
sondern des Verständnisses; dagegen ist es allerdings Geschmacksache, ob man
lieber Kunstwerke dieser oder jener Stilgattung sehen oder hören mag. Der
spätere Beethoven, Brahms, Wagner, Liszt müssen erst studirt sein, ehe man zu
ihnen Stellung nehmen kann; man kann erst dann sagen, man habe keine Lieb¬
haberei für ihre Werke, wenn man seine musikalische Hörfähigkeit soweit aus¬
gebildet hat, daß man die Faktur derselben übersieht. Kehrt man erst, nachdem
man ein lebhaftes Interesse für die verschränkten Bildungen der Neuzeit durch¬
gemacht hat, ermüdet und abgestumpft an den stärkenden Born frisch sprudelnden
musikalischen Empfindens eines Mozart zurück, so kann man sich von jedem
Vorwürfe der Parteilichkeit oder Bornirtheit freisprechen. Leider ist unserm
Publikum die Lust zum Lernen zumeist abhanden gekommen, und zwar darum,
weil es an ernsten und thatkräftigen Lehrern fehlt. Verhältnisse wie die Sonders¬
häuser, wo jahraus jahrein herrliche Orchesterleistungen geboten werden, ohne
daß das Interesse der Hörer durch gastirende Virtuosen abgelenkt wird, sind
so abnorme und seltene, daß sie fast ins Reich der Fabel zu gehören scheinen.
Dort ist wirklich ein lernendes Publikum, das einen Ueberblick über die sympho¬
nische Literatur der letzten hundert Jahre hat wie kaum ein zweites, und das
jedes neue Werk mit Freuden begrüßt, um es kennen zu lernen, aber nicht,
um es zu kritisiren. Das ist ja der Krebsschaden unserer musikalischen Ver¬
hältnisse, daß das Publikum in unseren Concertsälen und Opernhäusern richtet,
statt zu genießen! Es ist, statt einer Schaar gelehriger Schüler oder andächtiger
Gläubigen an die Hoheit der Kunst, eine Versammlung kleinlicher Splitterrichter,
einer Begeisterung nur noch sehr ausnahmsweise fähig, leider nicht immer zur
rechten Zeit, dagegen immer bereit, kategorisch zu verurtheilen. Daß es so ist,
können wir nur halb dem Verschulden des Publikums selbst beimessen, das ja
aus leicht begreiflicher Eitelkeit gern die Rolle einer höchsten Jury spielt, wenn
ihm dieselbe zugemuthet wird. Die Hauptschuld fällt ohne Frage auf die un¬
glückselige Konkurrenz der Virtuosen, welche um die Gunst des Publikums
buhlen und seine Kritik herausfordern.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0371" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143426"/>
          <p xml:id="ID_1111" prev="#ID_1110"> und ungerecht sein, wollte man jene Meister darum herabsetzen, weil ihnen das<lb/>
der Fassungskraft der Menge entsprechende zu einfach und reizlos erscheint<lb/>
und sie so schreiben, daß ihre Werke ihnen selbst volle Geistesarbeit bieten.<lb/>
Wagner darf der tonalen Einheit entbehren, weil er die Einheit des Kunstwerks<lb/>
in der poetischen Idee sieht; seine Musik ist eben keine absolute Musik und darf<lb/>
nicht mit derselben Elle gemessen werden wie diese. Brahms dagegen in seinen<lb/>
Orchesterwerken muß allerdings diese Grundgesetze musikalischer Formgebung<lb/>
anerkennen, aber er darf sich weitere Grenzen stecken, als sie üblich sind; er<lb/>
wahrt die tomate Einheit, entfaltet aber in ihrem Banne eine Harmonie von<lb/>
größter Freiheit. Das Schöne schön zu finden, ist nicht Sache des Geschmacks,<lb/>
sondern des Verständnisses; dagegen ist es allerdings Geschmacksache, ob man<lb/>
lieber Kunstwerke dieser oder jener Stilgattung sehen oder hören mag. Der<lb/>
spätere Beethoven, Brahms, Wagner, Liszt müssen erst studirt sein, ehe man zu<lb/>
ihnen Stellung nehmen kann; man kann erst dann sagen, man habe keine Lieb¬<lb/>
haberei für ihre Werke, wenn man seine musikalische Hörfähigkeit soweit aus¬<lb/>
gebildet hat, daß man die Faktur derselben übersieht. Kehrt man erst, nachdem<lb/>
man ein lebhaftes Interesse für die verschränkten Bildungen der Neuzeit durch¬<lb/>
gemacht hat, ermüdet und abgestumpft an den stärkenden Born frisch sprudelnden<lb/>
musikalischen Empfindens eines Mozart zurück, so kann man sich von jedem<lb/>
Vorwürfe der Parteilichkeit oder Bornirtheit freisprechen. Leider ist unserm<lb/>
Publikum die Lust zum Lernen zumeist abhanden gekommen, und zwar darum,<lb/>
weil es an ernsten und thatkräftigen Lehrern fehlt. Verhältnisse wie die Sonders¬<lb/>
häuser, wo jahraus jahrein herrliche Orchesterleistungen geboten werden, ohne<lb/>
daß das Interesse der Hörer durch gastirende Virtuosen abgelenkt wird, sind<lb/>
so abnorme und seltene, daß sie fast ins Reich der Fabel zu gehören scheinen.<lb/>
Dort ist wirklich ein lernendes Publikum, das einen Ueberblick über die sympho¬<lb/>
nische Literatur der letzten hundert Jahre hat wie kaum ein zweites, und das<lb/>
jedes neue Werk mit Freuden begrüßt, um es kennen zu lernen, aber nicht,<lb/>
um es zu kritisiren. Das ist ja der Krebsschaden unserer musikalischen Ver¬<lb/>
hältnisse, daß das Publikum in unseren Concertsälen und Opernhäusern richtet,<lb/>
statt zu genießen! Es ist, statt einer Schaar gelehriger Schüler oder andächtiger<lb/>
Gläubigen an die Hoheit der Kunst, eine Versammlung kleinlicher Splitterrichter,<lb/>
einer Begeisterung nur noch sehr ausnahmsweise fähig, leider nicht immer zur<lb/>
rechten Zeit, dagegen immer bereit, kategorisch zu verurtheilen. Daß es so ist,<lb/>
können wir nur halb dem Verschulden des Publikums selbst beimessen, das ja<lb/>
aus leicht begreiflicher Eitelkeit gern die Rolle einer höchsten Jury spielt, wenn<lb/>
ihm dieselbe zugemuthet wird. Die Hauptschuld fällt ohne Frage auf die un¬<lb/>
glückselige Konkurrenz der Virtuosen, welche um die Gunst des Publikums<lb/>
buhlen und seine Kritik herausfordern.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0371] und ungerecht sein, wollte man jene Meister darum herabsetzen, weil ihnen das der Fassungskraft der Menge entsprechende zu einfach und reizlos erscheint und sie so schreiben, daß ihre Werke ihnen selbst volle Geistesarbeit bieten. Wagner darf der tonalen Einheit entbehren, weil er die Einheit des Kunstwerks in der poetischen Idee sieht; seine Musik ist eben keine absolute Musik und darf nicht mit derselben Elle gemessen werden wie diese. Brahms dagegen in seinen Orchesterwerken muß allerdings diese Grundgesetze musikalischer Formgebung anerkennen, aber er darf sich weitere Grenzen stecken, als sie üblich sind; er wahrt die tomate Einheit, entfaltet aber in ihrem Banne eine Harmonie von größter Freiheit. Das Schöne schön zu finden, ist nicht Sache des Geschmacks, sondern des Verständnisses; dagegen ist es allerdings Geschmacksache, ob man lieber Kunstwerke dieser oder jener Stilgattung sehen oder hören mag. Der spätere Beethoven, Brahms, Wagner, Liszt müssen erst studirt sein, ehe man zu ihnen Stellung nehmen kann; man kann erst dann sagen, man habe keine Lieb¬ haberei für ihre Werke, wenn man seine musikalische Hörfähigkeit soweit aus¬ gebildet hat, daß man die Faktur derselben übersieht. Kehrt man erst, nachdem man ein lebhaftes Interesse für die verschränkten Bildungen der Neuzeit durch¬ gemacht hat, ermüdet und abgestumpft an den stärkenden Born frisch sprudelnden musikalischen Empfindens eines Mozart zurück, so kann man sich von jedem Vorwürfe der Parteilichkeit oder Bornirtheit freisprechen. Leider ist unserm Publikum die Lust zum Lernen zumeist abhanden gekommen, und zwar darum, weil es an ernsten und thatkräftigen Lehrern fehlt. Verhältnisse wie die Sonders¬ häuser, wo jahraus jahrein herrliche Orchesterleistungen geboten werden, ohne daß das Interesse der Hörer durch gastirende Virtuosen abgelenkt wird, sind so abnorme und seltene, daß sie fast ins Reich der Fabel zu gehören scheinen. Dort ist wirklich ein lernendes Publikum, das einen Ueberblick über die sympho¬ nische Literatur der letzten hundert Jahre hat wie kaum ein zweites, und das jedes neue Werk mit Freuden begrüßt, um es kennen zu lernen, aber nicht, um es zu kritisiren. Das ist ja der Krebsschaden unserer musikalischen Ver¬ hältnisse, daß das Publikum in unseren Concertsälen und Opernhäusern richtet, statt zu genießen! Es ist, statt einer Schaar gelehriger Schüler oder andächtiger Gläubigen an die Hoheit der Kunst, eine Versammlung kleinlicher Splitterrichter, einer Begeisterung nur noch sehr ausnahmsweise fähig, leider nicht immer zur rechten Zeit, dagegen immer bereit, kategorisch zu verurtheilen. Daß es so ist, können wir nur halb dem Verschulden des Publikums selbst beimessen, das ja aus leicht begreiflicher Eitelkeit gern die Rolle einer höchsten Jury spielt, wenn ihm dieselbe zugemuthet wird. Die Hauptschuld fällt ohne Frage auf die un¬ glückselige Konkurrenz der Virtuosen, welche um die Gunst des Publikums buhlen und seine Kritik herausfordern.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/371
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/371>, abgerufen am 23.07.2024.