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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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roder vermählt hatte und seitdem mehrfach in Erfurt sich aufhielt. Ihre Unter-
haltungen über den Zweck des Staates veranlaßten einen Aufsatz Humboldts
"Ideen über Staatsverfassung" in der Berliner Monatsschrift v. I. 1792 und
eine Erwiederung Dalbergs "Von den wahren Grenzen der Wirksamkeit des
Staates in Bezug auf seine Mitglieder" (Leipzig, 1793), zwei Arbeiten, die in
ihrer Tendenz einander diametral entgegengesetzt find und zwei verschiedenen
Zeitaltern anzugehören scheinen. Humboldt will die Aufgabe des Staats auf
die Wahrung der äußeren und inneren Sicherheit beschränken, alles Andere den
einzelnen Bürgern oder freien Vereinigungen derselben überlassen. Dalberg
dagegen begründet den Staat auf eine Art von Staatsvertrag, findet seinen
Zweck in der Glückseligkeit aller seiner Mitglieder und will seine Thätigkeit auf
alle Gebiete des menschlichen Lebens erstreckt, nur durch das Maß der geistigen
und körperlichen Kräfte beschränkt wissen. So erscheint Humboldt als ein
-- freilich extremer -- Vertreter des dezentralisirten und auf Selbstverwaltung
beruhenden modern germanischen Staates, Dalberg als der Verfechter des auf¬
geklärten, aber auch alles beherrschenden und bevormundenden Absolutismus,
jener vorwärtsschauend in die Zukunft, dieser rückmärtsblickend auf eine Periode,
die sich ihrem Ende näherte. So verschieden die politischen Anschauungen bei¬
der, so verschieden ist schließlich ihre Laufbahn gewesen, die sie bald innerlich
einander entfremden mußte, wie sie beide sehr rasch äußerlich getrennt hat, als
Humboldt die diplomatische Carriere einschlug.

Wie Dalberg seinen Beziehungen zu Weimar einen Namen in der deut¬
schen Literaturgeschichte verdankt, den er sich dnrch seine eigne schriftstellerische
Thätigkeit niemals würde erworben haben"), so hat seine Bekanntschaft mit
Herzog Karl August ihn anch zum ersten Male fast wider Willen in die große
deutsche Politik hineingeführt. Diese wurde damals, wie bekannt, von dem Gegen¬
satze zwischen Oesterreich und dem Fnrstenbunde beherrscht, den Friedrich der
Große? zunächst dem Anschlage Josephs 1l. auf Baiern i. I. 1785 entgegen¬
gesetzt hatte, an dessen Entstehung aber sich auch nach dem Tode des Königs
mannigfache Hoffnungen auf eine politische Neugestaltung Deutschlands über¬
haupt geknüpft hatten. Für diesen Bund war auch Kurmainz besonders dnrch
die Bemühungen des preußischen Bevollmächtigten Freiherrn vom Stein, des
späteren allberühmten Ministers, gewonnen worden (18. Oktober 1785). Da
der regierende Kurfürst Friedrich Karl Joseph v. Erthal (seit 1774) kränklich
war und sein baldiges Ableben allgemein erwartet wurde, so wünschten die
Staaten des Fürstenbundes, Preußen, Sachsen und Hannover voran, ihm mög-



"°) Einer Aufzählung und Charakteristik seiner zahlreichen (SV) und z. Th> umfänglichen
Schriften, die sich so ziemlich über alle Gebiete der Wissenschaft und Literatur in dilettircu-
der Weise verbreiten, ist ein Anhang in Beaulieus Buche gewidmet.

roder vermählt hatte und seitdem mehrfach in Erfurt sich aufhielt. Ihre Unter-
haltungen über den Zweck des Staates veranlaßten einen Aufsatz Humboldts
„Ideen über Staatsverfassung" in der Berliner Monatsschrift v. I. 1792 und
eine Erwiederung Dalbergs „Von den wahren Grenzen der Wirksamkeit des
Staates in Bezug auf seine Mitglieder" (Leipzig, 1793), zwei Arbeiten, die in
ihrer Tendenz einander diametral entgegengesetzt find und zwei verschiedenen
Zeitaltern anzugehören scheinen. Humboldt will die Aufgabe des Staats auf
die Wahrung der äußeren und inneren Sicherheit beschränken, alles Andere den
einzelnen Bürgern oder freien Vereinigungen derselben überlassen. Dalberg
dagegen begründet den Staat auf eine Art von Staatsvertrag, findet seinen
Zweck in der Glückseligkeit aller seiner Mitglieder und will seine Thätigkeit auf
alle Gebiete des menschlichen Lebens erstreckt, nur durch das Maß der geistigen
und körperlichen Kräfte beschränkt wissen. So erscheint Humboldt als ein
— freilich extremer — Vertreter des dezentralisirten und auf Selbstverwaltung
beruhenden modern germanischen Staates, Dalberg als der Verfechter des auf¬
geklärten, aber auch alles beherrschenden und bevormundenden Absolutismus,
jener vorwärtsschauend in die Zukunft, dieser rückmärtsblickend auf eine Periode,
die sich ihrem Ende näherte. So verschieden die politischen Anschauungen bei¬
der, so verschieden ist schließlich ihre Laufbahn gewesen, die sie bald innerlich
einander entfremden mußte, wie sie beide sehr rasch äußerlich getrennt hat, als
Humboldt die diplomatische Carriere einschlug.

Wie Dalberg seinen Beziehungen zu Weimar einen Namen in der deut¬
schen Literaturgeschichte verdankt, den er sich dnrch seine eigne schriftstellerische
Thätigkeit niemals würde erworben haben"), so hat seine Bekanntschaft mit
Herzog Karl August ihn anch zum ersten Male fast wider Willen in die große
deutsche Politik hineingeführt. Diese wurde damals, wie bekannt, von dem Gegen¬
satze zwischen Oesterreich und dem Fnrstenbunde beherrscht, den Friedrich der
Große? zunächst dem Anschlage Josephs 1l. auf Baiern i. I. 1785 entgegen¬
gesetzt hatte, an dessen Entstehung aber sich auch nach dem Tode des Königs
mannigfache Hoffnungen auf eine politische Neugestaltung Deutschlands über¬
haupt geknüpft hatten. Für diesen Bund war auch Kurmainz besonders dnrch
die Bemühungen des preußischen Bevollmächtigten Freiherrn vom Stein, des
späteren allberühmten Ministers, gewonnen worden (18. Oktober 1785). Da
der regierende Kurfürst Friedrich Karl Joseph v. Erthal (seit 1774) kränklich
war und sein baldiges Ableben allgemein erwartet wurde, so wünschten die
Staaten des Fürstenbundes, Preußen, Sachsen und Hannover voran, ihm mög-



"°) Einer Aufzählung und Charakteristik seiner zahlreichen (SV) und z. Th> umfänglichen
Schriften, die sich so ziemlich über alle Gebiete der Wissenschaft und Literatur in dilettircu-
der Weise verbreiten, ist ein Anhang in Beaulieus Buche gewidmet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/355>, abgerufen am 23.07.2024.