Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.ist. Der Todte liegt lang auf dem Erdboden ausgestreckt an der Wand, und Max Michael, einer der Maler, die nach erfolgter Reorganisation an ist. Der Todte liegt lang auf dem Erdboden ausgestreckt an der Wand, und Max Michael, einer der Maler, die nach erfolgter Reorganisation an <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0035" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143090"/> <p xml:id="ID_137" prev="#ID_136"> ist. Der Todte liegt lang auf dem Erdboden ausgestreckt an der Wand, und<lb/> über ihn beugt sich sein junges Weib, dessen Antlitz der Maler in weiser Be¬<lb/> herzigung der tiefsinnigen Regeln Lessings verhüllt hat, während das Angesicht<lb/> des alten Vaters des Ertrunkenen, der an der entgegengesetzten Seite des<lb/> Zimmers völlig gebrochen an einem Tische sitzt, nur im Profil sichtbar ist. In<lb/> den Mienen der übrigen Anwesenden spiegelt sich dann eine weitere Skala von<lb/> Gefühlen, von inniger, herzlicher Theilnahme der engeren Freunde bis zur er¬<lb/> schreckten Neugierde der herbeieilenden Nachbarn. Zu der herzbeklemmenden,<lb/> düstern Grundstimmung der ergreifenden Szene bildet das durch die Thür<lb/> einfallende Sonnenlicht, welches die bunt bemalten Wände des Zimmers, die<lb/> Geräthe und die farbigen Trachten grell streift, einen eigenthümlichen Kontrast.<lb/> Für Jordans erlahmende Kraft, dem die Initiative von der Kunstgeschichte nie<lb/> vergessen werden wird, tritt hier ein reicher Ersatz ins Feld, ein junges Talent<lb/> von ungewöhnlicher Begabung, welches zugleich über glänzendere koloristische<lb/> Mittel verfügt als der Altmeister, dessen Bilder in der Färbung allgemach<lb/> etwas stumpf und flau geworden sind. Ein Bild von seiner Hand: „Nach<lb/> durchwachter Nacht", eine Fischersfrau, die am Bette ihres Kindes sitzend in<lb/> banger Erwartung durch das geöffnete Fenster aufs Meer blickt, fesselt durch<lb/> die melancholische Stimmung, durch die ängstliche Spannung des Moments.</p><lb/> <p xml:id="ID_138" next="#ID_139"> Max Michael, einer der Maler, die nach erfolgter Reorganisation an<lb/> die Kunstakademie berufen wurden, behandelt Szenen aus dem Familienleben<lb/> ungleich äußerlicher. Ihn ergreift der Stoff nicht unmittelbar, sondern derselbe ist<lb/> ihm nur Mittel zum Zweck, gleichsam das Gerüst zur Entfaltung koloristischer<lb/> Experimente, die sich gewöhnlich innerhalb einer düsteren Farbenreihe bewegen.<lb/> In einer ärmlichen Hütte sitzt ein Elternpaar an der Wiege des Kindes, welches<lb/> von der Mutter aufrecht erhalten dem Vater die Arme entgegenstreckt. Im<lb/> Hintergrunde sieht man am Herde einen schlummernden Knecht sitzen. Dieser<lb/> einfache Vorgang wird mit einem feierlichen Ernst, einer Wichtigkeit vorgetragen,<lb/> als ob es sich um eine Szene aus der Passion handle. Ein schwerer, düstrer<lb/> Ton, der für die französischen Naturalisten, besonders für Courbet charakteristisch<lb/> ist, lastet auf dem Ganzen und dämpft die Lokaltöne durch graue Schatten.<lb/> Statt des idealen Hauches, den das Familienglück anch über die ärmlichste<lb/> Hütte verbreitet, erfüllt ein poesieloser Realismus den kahlen Raum. Die<lb/> Köpfe entbehren einer tieferen Charakteristik, und damit sich ja nicht im Auge<lb/> die Regungen der Seele verrathen, hat der Maler die Augen der drei Haupt¬<lb/> figuren durch unbestimmte, verschleierte Töne angedeutet, denen jede plastische<lb/> Form fehlt. Es ist bedauerlich, daß ein fo hervorragendes koloristisches Talent,<lb/> welches sich übrigens in einem flott und effektvoll behandelten „Stillleben" von<lb/> einer erfreulicheren Seite zeigt, sich auf die trostlosen Irrwege des Pseudo-Realis-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0035]
ist. Der Todte liegt lang auf dem Erdboden ausgestreckt an der Wand, und
über ihn beugt sich sein junges Weib, dessen Antlitz der Maler in weiser Be¬
herzigung der tiefsinnigen Regeln Lessings verhüllt hat, während das Angesicht
des alten Vaters des Ertrunkenen, der an der entgegengesetzten Seite des
Zimmers völlig gebrochen an einem Tische sitzt, nur im Profil sichtbar ist. In
den Mienen der übrigen Anwesenden spiegelt sich dann eine weitere Skala von
Gefühlen, von inniger, herzlicher Theilnahme der engeren Freunde bis zur er¬
schreckten Neugierde der herbeieilenden Nachbarn. Zu der herzbeklemmenden,
düstern Grundstimmung der ergreifenden Szene bildet das durch die Thür
einfallende Sonnenlicht, welches die bunt bemalten Wände des Zimmers, die
Geräthe und die farbigen Trachten grell streift, einen eigenthümlichen Kontrast.
Für Jordans erlahmende Kraft, dem die Initiative von der Kunstgeschichte nie
vergessen werden wird, tritt hier ein reicher Ersatz ins Feld, ein junges Talent
von ungewöhnlicher Begabung, welches zugleich über glänzendere koloristische
Mittel verfügt als der Altmeister, dessen Bilder in der Färbung allgemach
etwas stumpf und flau geworden sind. Ein Bild von seiner Hand: „Nach
durchwachter Nacht", eine Fischersfrau, die am Bette ihres Kindes sitzend in
banger Erwartung durch das geöffnete Fenster aufs Meer blickt, fesselt durch
die melancholische Stimmung, durch die ängstliche Spannung des Moments.
Max Michael, einer der Maler, die nach erfolgter Reorganisation an
die Kunstakademie berufen wurden, behandelt Szenen aus dem Familienleben
ungleich äußerlicher. Ihn ergreift der Stoff nicht unmittelbar, sondern derselbe ist
ihm nur Mittel zum Zweck, gleichsam das Gerüst zur Entfaltung koloristischer
Experimente, die sich gewöhnlich innerhalb einer düsteren Farbenreihe bewegen.
In einer ärmlichen Hütte sitzt ein Elternpaar an der Wiege des Kindes, welches
von der Mutter aufrecht erhalten dem Vater die Arme entgegenstreckt. Im
Hintergrunde sieht man am Herde einen schlummernden Knecht sitzen. Dieser
einfache Vorgang wird mit einem feierlichen Ernst, einer Wichtigkeit vorgetragen,
als ob es sich um eine Szene aus der Passion handle. Ein schwerer, düstrer
Ton, der für die französischen Naturalisten, besonders für Courbet charakteristisch
ist, lastet auf dem Ganzen und dämpft die Lokaltöne durch graue Schatten.
Statt des idealen Hauches, den das Familienglück anch über die ärmlichste
Hütte verbreitet, erfüllt ein poesieloser Realismus den kahlen Raum. Die
Köpfe entbehren einer tieferen Charakteristik, und damit sich ja nicht im Auge
die Regungen der Seele verrathen, hat der Maler die Augen der drei Haupt¬
figuren durch unbestimmte, verschleierte Töne angedeutet, denen jede plastische
Form fehlt. Es ist bedauerlich, daß ein fo hervorragendes koloristisches Talent,
welches sich übrigens in einem flott und effektvoll behandelten „Stillleben" von
einer erfreulicheren Seite zeigt, sich auf die trostlosen Irrwege des Pseudo-Realis-
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