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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Nothwendig ist auch in der sinnlichen Welt der Sieg der Vernunft über die
Unvernunft. Dies ist auch der dunkle Sinn des Begriffs der Gerechtigkeit
beim platonischen Sokrates und in der Sokratik überhaupt.

Daß sonach in der Weltgeschichte eine großartige Manifestation der Ge¬
setze der Sittlichkeit und der Vernunft, herabgestiegen zu sinnlichen Formen,
sich vollende, das kann nur dadurch erklärt werden, daß die menschliche Ver¬
nunft als ein Theil des göttlichen Willens aufgefaßt und begriffen wird. Die
höchste Autorität, der Wille Gottes, hat in den Kirchengemeinschaften unsrer
Zeit seinen historischen Ausdruck gefunden. Diese Autorität hat aber sehr an
Glauben verloren, weil der göttliche Wille nur durch das Organ menschlicher
Offenbarung erscheinen konnte und dem gegenüber eine neue Autorität sich erhob,
welche das Kriterium ihres Werthes nicht in Andern (Heteronomie), sondern
in sich selbst (Autonomie) trug, nämlich ein göttlicher Wille, der zugleich der
eigene Wille des Handelnden ist, ein göttlicher Wille, mit welchem sich der
eigene Jndividualwille durch einen Erkenntnißakt in Uebereinstimmung setzt.
So entsteht die autonome Gesetzgebung der Sittlichkeit mit ihrem kategorischen
Imperativ. Die Freiheit, durch die Verachtung aller Autorität hindurchge¬
gangen, ist zur Selbstachtung, zur autonomen Pflichtbestimmung emporgestiegen.
Jeder, sofern er sittlich handeln will, muß sich als Mitglied eines "Geister¬
reichs der Zwecke" betrachten, denn nur so kann dem allgemeinen Gesetze der
Vernunft der Welt oder der göttlichen Vernunft genügt werden. Diese gött¬
liche Vernunft ist aber nur dem sittlich strebenden Menschen verständlich, nicht
dem Egoisten, nicht dem Romanhelden, sondern, um platonisch zu reden, nur
dem "Gerechten". Ungerechte Menschen können die Schicksalsfragen der Sphinx
nicht richtig beantworten, sie werden daher zerrissen und in den Abgrund
gestürzt.

Wie mit den Individuen, so ist es aber auch mit den Nationen. Das
Geheimniß aller unglücklichen Menschen und aller unglücklichen Völker ist nichts
Anderes, als daß sie den ewigen Thatsachen dieses Weltalls untreu geworden,
nicht der Wahrheit, sondern dem Scheine gefolgt sind. Sie müssen zu Grunde
gehen. Thörichte und ungerechte Menschen glauben nicht an die Gerechtigkeit
hienieden, weil sie bemerken, daß die Strafe der bösen That nicht allsogleich
folgt, weil sie eventuell sofort mit der Ausrede bereit dastehen, daß es Zufall
gewesen sei. Und doch ist es wahr, daß auf Erden wirklich Gerechtigkeit und
im Grunde nichts Anderes als Gerechtigkeit herrscht. "Vergiß dies, und du
hast Alles vergessen, du hast das ganze Weltall gegen dich." Die Strafe für
eine böse That verzögert sich um ein paar Tage oder auch um ein paar
Jahrhunderte, aber unausbleiblich ist sie gewiß. Und doch muß wieder daran
erinnert werden, daß kein Kausalverhültniß zwischen dem Akte der Sittlichkeit


Nothwendig ist auch in der sinnlichen Welt der Sieg der Vernunft über die
Unvernunft. Dies ist auch der dunkle Sinn des Begriffs der Gerechtigkeit
beim platonischen Sokrates und in der Sokratik überhaupt.

Daß sonach in der Weltgeschichte eine großartige Manifestation der Ge¬
setze der Sittlichkeit und der Vernunft, herabgestiegen zu sinnlichen Formen,
sich vollende, das kann nur dadurch erklärt werden, daß die menschliche Ver¬
nunft als ein Theil des göttlichen Willens aufgefaßt und begriffen wird. Die
höchste Autorität, der Wille Gottes, hat in den Kirchengemeinschaften unsrer
Zeit seinen historischen Ausdruck gefunden. Diese Autorität hat aber sehr an
Glauben verloren, weil der göttliche Wille nur durch das Organ menschlicher
Offenbarung erscheinen konnte und dem gegenüber eine neue Autorität sich erhob,
welche das Kriterium ihres Werthes nicht in Andern (Heteronomie), sondern
in sich selbst (Autonomie) trug, nämlich ein göttlicher Wille, der zugleich der
eigene Wille des Handelnden ist, ein göttlicher Wille, mit welchem sich der
eigene Jndividualwille durch einen Erkenntnißakt in Uebereinstimmung setzt.
So entsteht die autonome Gesetzgebung der Sittlichkeit mit ihrem kategorischen
Imperativ. Die Freiheit, durch die Verachtung aller Autorität hindurchge¬
gangen, ist zur Selbstachtung, zur autonomen Pflichtbestimmung emporgestiegen.
Jeder, sofern er sittlich handeln will, muß sich als Mitglied eines „Geister¬
reichs der Zwecke" betrachten, denn nur so kann dem allgemeinen Gesetze der
Vernunft der Welt oder der göttlichen Vernunft genügt werden. Diese gött¬
liche Vernunft ist aber nur dem sittlich strebenden Menschen verständlich, nicht
dem Egoisten, nicht dem Romanhelden, sondern, um platonisch zu reden, nur
dem „Gerechten". Ungerechte Menschen können die Schicksalsfragen der Sphinx
nicht richtig beantworten, sie werden daher zerrissen und in den Abgrund
gestürzt.

Wie mit den Individuen, so ist es aber auch mit den Nationen. Das
Geheimniß aller unglücklichen Menschen und aller unglücklichen Völker ist nichts
Anderes, als daß sie den ewigen Thatsachen dieses Weltalls untreu geworden,
nicht der Wahrheit, sondern dem Scheine gefolgt sind. Sie müssen zu Grunde
gehen. Thörichte und ungerechte Menschen glauben nicht an die Gerechtigkeit
hienieden, weil sie bemerken, daß die Strafe der bösen That nicht allsogleich
folgt, weil sie eventuell sofort mit der Ausrede bereit dastehen, daß es Zufall
gewesen sei. Und doch ist es wahr, daß auf Erden wirklich Gerechtigkeit und
im Grunde nichts Anderes als Gerechtigkeit herrscht. „Vergiß dies, und du
hast Alles vergessen, du hast das ganze Weltall gegen dich." Die Strafe für
eine böse That verzögert sich um ein paar Tage oder auch um ein paar
Jahrhunderte, aber unausbleiblich ist sie gewiß. Und doch muß wieder daran
erinnert werden, daß kein Kausalverhültniß zwischen dem Akte der Sittlichkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/328>, abgerufen am 27.08.2024.