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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Kirche, keine noch so heilige Institution kann Sittlichkeit erzwingen. sittliches
Handeln ist der hochpersönlichste Akt des Individuums -- es ist reine Aktion.

Die Analyse der Genesis aller Gesetze führt zuletzt auf einen durch Er¬
kenntniß vermittelten Sittlichkeitsakt eines Jndividualwillens -- eines Ein¬
zelnen. Ein Gesetz ist der Ausdruck eines Sittlichkeitsaktes, dessen Wirkung
in den Kausalzusammenhang gefallen ist. Von unserm sogenannten sittlichen
Handeln sind neun Zehntel hereditäre Errungenschaften fremder Sitilichkeitsakte.

Wären wir reine Vernunftwesen, so würden wir das Sittengesetz analog der
Nothwendigkeit von Naturgesetzen vollziehen; Sittlichkeit, Zufall, Möglichkeit könn¬
ten nicht existiren, desgleichen, wenn wir reine Sinnwesen wären wie die Thiere.
In beiden Fällen würde Nothwendigkeit herrschen. Die (menschliche) Fähigkeit,
sich entweder für die Vernunft oder für die Sinnlichkeit zu entscheiden, heißt
Freiheit. Der Komplex der menschlichen Freiheits- und Sinnlichkeitshand¬
lungen macht die Geschichte aus; die Beurtheilung derselben die Wissenschaft.
Die Wissenschaft zeigt nicht, daß, oder warum ich sittlich handeln soll, denn
dies ist -- um des Guten willen -- unmittelbar gewiß; die Wissenschaft
zeigt die Wege, wie ich am geeignetsten meine sittliche Kraft anwenden
muß, um die Natur nach Sittengesetzen umzugestalten. Sie zeigt, wie das
Sittengesetz in der Geschichte sich als das Vernunftgesetz offenbart, und wie
durch die Handlungen der Menschen das Sinnliche zur Wirkung des Vernünf¬
tigen gemacht wird. Die Weltgeschichte ist somit nichts Anderes als ein fort¬
währendes Unbilden der Natur in Vernunft oder in Unvernunft; im letzteren
Falle schnurren entweder einfach die Naturgesetze ab, oder die unvernünftigen
Wirkungen häufen sich so lange, bis die Vernunft sie als unvernünftig begreift.
Aus jedem vernünftigen oder sittlichen Akte entsteht als Wirkung ein sinnlicher
Vernunftzeuge, der so lange redet, als Menschen Vernunft haben werden. Aus
jedem unvernünftigen Akt entsteht ebenfalls ein sinnlicher Zeuge, dessen Wir¬
kung so lange gegen die Vernunft protestirt, bis die Vernunft seine Wirkung
-- durch die Wissenschaft -- begreift. Es ist durchaus falsch, die Abwickelung
der Geschichte, so wie Buckle thut, mit der Nothwendigkeit elementarer Ereignisse
zu vergleichen und anzunehmen, daß sie sich hätte so und nicht anders voll¬
ziehen müssen. Im Gegentheil, es war nicht nothwendig, daß z. B. die Schlacht
bei Waterloo für Napoleon verloren ging, es war nicht nothwendig, daß Napo¬
leon überhaupt jene historische Rolle spielte, es wäre möglich gewesen, daß ein
vom Dache fallender Ziegel, ähnlich wie Pyrrhus, den späteren Imperator in
seiner Jugend getödtet hätte, aber dann würde sich die Vernunft in andern
sinnlichen Formen verwirklicht haben. Die Reihenfolge der sinnlichen Formen,
in welchen sich die Sittlichkeitsgesetze verkörpern (Wirkung werden), ist zufällig,
nothwendig ist nur, daß diese Formen schließlich der Vernunft gemäß werden.


Kirche, keine noch so heilige Institution kann Sittlichkeit erzwingen. sittliches
Handeln ist der hochpersönlichste Akt des Individuums — es ist reine Aktion.

Die Analyse der Genesis aller Gesetze führt zuletzt auf einen durch Er¬
kenntniß vermittelten Sittlichkeitsakt eines Jndividualwillens — eines Ein¬
zelnen. Ein Gesetz ist der Ausdruck eines Sittlichkeitsaktes, dessen Wirkung
in den Kausalzusammenhang gefallen ist. Von unserm sogenannten sittlichen
Handeln sind neun Zehntel hereditäre Errungenschaften fremder Sitilichkeitsakte.

Wären wir reine Vernunftwesen, so würden wir das Sittengesetz analog der
Nothwendigkeit von Naturgesetzen vollziehen; Sittlichkeit, Zufall, Möglichkeit könn¬
ten nicht existiren, desgleichen, wenn wir reine Sinnwesen wären wie die Thiere.
In beiden Fällen würde Nothwendigkeit herrschen. Die (menschliche) Fähigkeit,
sich entweder für die Vernunft oder für die Sinnlichkeit zu entscheiden, heißt
Freiheit. Der Komplex der menschlichen Freiheits- und Sinnlichkeitshand¬
lungen macht die Geschichte aus; die Beurtheilung derselben die Wissenschaft.
Die Wissenschaft zeigt nicht, daß, oder warum ich sittlich handeln soll, denn
dies ist — um des Guten willen — unmittelbar gewiß; die Wissenschaft
zeigt die Wege, wie ich am geeignetsten meine sittliche Kraft anwenden
muß, um die Natur nach Sittengesetzen umzugestalten. Sie zeigt, wie das
Sittengesetz in der Geschichte sich als das Vernunftgesetz offenbart, und wie
durch die Handlungen der Menschen das Sinnliche zur Wirkung des Vernünf¬
tigen gemacht wird. Die Weltgeschichte ist somit nichts Anderes als ein fort¬
währendes Unbilden der Natur in Vernunft oder in Unvernunft; im letzteren
Falle schnurren entweder einfach die Naturgesetze ab, oder die unvernünftigen
Wirkungen häufen sich so lange, bis die Vernunft sie als unvernünftig begreift.
Aus jedem vernünftigen oder sittlichen Akte entsteht als Wirkung ein sinnlicher
Vernunftzeuge, der so lange redet, als Menschen Vernunft haben werden. Aus
jedem unvernünftigen Akt entsteht ebenfalls ein sinnlicher Zeuge, dessen Wir¬
kung so lange gegen die Vernunft protestirt, bis die Vernunft seine Wirkung
— durch die Wissenschaft — begreift. Es ist durchaus falsch, die Abwickelung
der Geschichte, so wie Buckle thut, mit der Nothwendigkeit elementarer Ereignisse
zu vergleichen und anzunehmen, daß sie sich hätte so und nicht anders voll¬
ziehen müssen. Im Gegentheil, es war nicht nothwendig, daß z. B. die Schlacht
bei Waterloo für Napoleon verloren ging, es war nicht nothwendig, daß Napo¬
leon überhaupt jene historische Rolle spielte, es wäre möglich gewesen, daß ein
vom Dache fallender Ziegel, ähnlich wie Pyrrhus, den späteren Imperator in
seiner Jugend getödtet hätte, aber dann würde sich die Vernunft in andern
sinnlichen Formen verwirklicht haben. Die Reihenfolge der sinnlichen Formen,
in welchen sich die Sittlichkeitsgesetze verkörpern (Wirkung werden), ist zufällig,
nothwendig ist nur, daß diese Formen schließlich der Vernunft gemäß werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/327>, abgerufen am 27.08.2024.