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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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überwinden, so muß es im Pietismus vegetiren, im Skeptizismus verschmach¬
ten, im Quietismus und in der Passivität, im Verzehren der Kulturkapitalien
seiner Voreltern zu Grunde gehen.

Auch das deutsche Volk steht vor der Lösung dieser Aufgabe, welche für
die Antike der Anfang des Endes ward. Von den drei Gewalten, deren Funk¬
tionen einstmals die Attribute königlicher Gewalt waren, Priester, Richter,
Heerführer, und denen in der Folgezeit die Organisationen der Kirche, der Justiz
und des Militärs entsprachen, hat eigentlich nur die letztere in hervorragender
und neuschaffender Weise dem Umsichgreifen des Romanheldenthums mit Erfolg
Ziel und Schranken zu setzen vermocht. Leider ist dies zum Theil auf Kosten
der beiden andern Stände geschehen, weil die Intelligenz des Landes seit der
Militär-Reorganisation sich vorzugsweise dem Heere zugewendet hat.

Möchte doch unsere Kirche und unser Richterstand sich dazu aufraffen,
energisch-thätigen Antheil an den großen Problemen der ethischen Volkserzie¬
hung zu nehmen, möchten doch nicht gerade die dazu berufensten Stände fort¬
fahren, in den ausgebrannten Trümmern einer historisch abgelebten Epoche zu
verweilen, und sich genug fein lassen an der Erfüllung der Formen und For¬
meln des täglichen Berufs, möchten sie sich doch erheben aus dem Romanhel-
denthum, das sich mit dem Abglanze einer stolzen Vergangenheit begnügt und
darin hinreichende Befriedigung findet. Die Forderung unserer Philosophen:
Vertiefung der Moral durch den Begriff der Pflicht und der Pflichterfüllung,
muß durch die drei genannten Stände allmählich dem deutschen Volksleben
vermittelt werden.

Unter Pflicht verstehen wir nicht die einfache Unterwerfung unter die Ge¬
setze der Vernunft, was man dahin total mißverstehen könnte, als ob nun
jeder die Vernunft für sich allein besäße und so statt eines Herrn deren
tausende aufträten; es ist nicht die individuelle Vernunft, sondern vielmehr die
göttliche Vernunft, welche von uns in jedem Augenblicke bestimmte konkrete
Leistungen, d. h. Pflichten fordert. Aufgabe der individuellen Vernunft ist es,
diese göttlichen Gebote auch als Forderungen der eigenen Vernunft zu begreifen.
Wir können die göttliche Vernunft in ihrer Wirkung nur nach Analogie der
eigenen denken, als ein durch stete Sittlichkeitsakte werdendes Vernunftreich.
Jedes vernünftige Wesen ist ein Mitarbeiter an diesem Vernunftreiche, sofern
es sittlich, d. h. frei handelt, sonst nicht. Der Anfang dieses Vernunftreiches
hat in den Grundwahrheiten der Religionen, in den Gesetzen des Staates und
in der Ethik der Philosophie schon historische Gestaltung erhalten, und an den
Geringsten unter uns ergeht der Ruf, in jedem Augenblicke seines Lebens dieses
Reich der Vernunft ausbauen zu helfen. Dabei stellt sich heraus, ein wie
großer Unterschied zwischen der bloßen Gesetzlichkeit (Legalität) und der Sitt-


überwinden, so muß es im Pietismus vegetiren, im Skeptizismus verschmach¬
ten, im Quietismus und in der Passivität, im Verzehren der Kulturkapitalien
seiner Voreltern zu Grunde gehen.

Auch das deutsche Volk steht vor der Lösung dieser Aufgabe, welche für
die Antike der Anfang des Endes ward. Von den drei Gewalten, deren Funk¬
tionen einstmals die Attribute königlicher Gewalt waren, Priester, Richter,
Heerführer, und denen in der Folgezeit die Organisationen der Kirche, der Justiz
und des Militärs entsprachen, hat eigentlich nur die letztere in hervorragender
und neuschaffender Weise dem Umsichgreifen des Romanheldenthums mit Erfolg
Ziel und Schranken zu setzen vermocht. Leider ist dies zum Theil auf Kosten
der beiden andern Stände geschehen, weil die Intelligenz des Landes seit der
Militär-Reorganisation sich vorzugsweise dem Heere zugewendet hat.

Möchte doch unsere Kirche und unser Richterstand sich dazu aufraffen,
energisch-thätigen Antheil an den großen Problemen der ethischen Volkserzie¬
hung zu nehmen, möchten doch nicht gerade die dazu berufensten Stände fort¬
fahren, in den ausgebrannten Trümmern einer historisch abgelebten Epoche zu
verweilen, und sich genug fein lassen an der Erfüllung der Formen und For¬
meln des täglichen Berufs, möchten sie sich doch erheben aus dem Romanhel-
denthum, das sich mit dem Abglanze einer stolzen Vergangenheit begnügt und
darin hinreichende Befriedigung findet. Die Forderung unserer Philosophen:
Vertiefung der Moral durch den Begriff der Pflicht und der Pflichterfüllung,
muß durch die drei genannten Stände allmählich dem deutschen Volksleben
vermittelt werden.

Unter Pflicht verstehen wir nicht die einfache Unterwerfung unter die Ge¬
setze der Vernunft, was man dahin total mißverstehen könnte, als ob nun
jeder die Vernunft für sich allein besäße und so statt eines Herrn deren
tausende aufträten; es ist nicht die individuelle Vernunft, sondern vielmehr die
göttliche Vernunft, welche von uns in jedem Augenblicke bestimmte konkrete
Leistungen, d. h. Pflichten fordert. Aufgabe der individuellen Vernunft ist es,
diese göttlichen Gebote auch als Forderungen der eigenen Vernunft zu begreifen.
Wir können die göttliche Vernunft in ihrer Wirkung nur nach Analogie der
eigenen denken, als ein durch stete Sittlichkeitsakte werdendes Vernunftreich.
Jedes vernünftige Wesen ist ein Mitarbeiter an diesem Vernunftreiche, sofern
es sittlich, d. h. frei handelt, sonst nicht. Der Anfang dieses Vernunftreiches
hat in den Grundwahrheiten der Religionen, in den Gesetzen des Staates und
in der Ethik der Philosophie schon historische Gestaltung erhalten, und an den
Geringsten unter uns ergeht der Ruf, in jedem Augenblicke seines Lebens dieses
Reich der Vernunft ausbauen zu helfen. Dabei stellt sich heraus, ein wie
großer Unterschied zwischen der bloßen Gesetzlichkeit (Legalität) und der Sitt-


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[0324] überwinden, so muß es im Pietismus vegetiren, im Skeptizismus verschmach¬ ten, im Quietismus und in der Passivität, im Verzehren der Kulturkapitalien seiner Voreltern zu Grunde gehen. Auch das deutsche Volk steht vor der Lösung dieser Aufgabe, welche für die Antike der Anfang des Endes ward. Von den drei Gewalten, deren Funk¬ tionen einstmals die Attribute königlicher Gewalt waren, Priester, Richter, Heerführer, und denen in der Folgezeit die Organisationen der Kirche, der Justiz und des Militärs entsprachen, hat eigentlich nur die letztere in hervorragender und neuschaffender Weise dem Umsichgreifen des Romanheldenthums mit Erfolg Ziel und Schranken zu setzen vermocht. Leider ist dies zum Theil auf Kosten der beiden andern Stände geschehen, weil die Intelligenz des Landes seit der Militär-Reorganisation sich vorzugsweise dem Heere zugewendet hat. Möchte doch unsere Kirche und unser Richterstand sich dazu aufraffen, energisch-thätigen Antheil an den großen Problemen der ethischen Volkserzie¬ hung zu nehmen, möchten doch nicht gerade die dazu berufensten Stände fort¬ fahren, in den ausgebrannten Trümmern einer historisch abgelebten Epoche zu verweilen, und sich genug fein lassen an der Erfüllung der Formen und For¬ meln des täglichen Berufs, möchten sie sich doch erheben aus dem Romanhel- denthum, das sich mit dem Abglanze einer stolzen Vergangenheit begnügt und darin hinreichende Befriedigung findet. Die Forderung unserer Philosophen: Vertiefung der Moral durch den Begriff der Pflicht und der Pflichterfüllung, muß durch die drei genannten Stände allmählich dem deutschen Volksleben vermittelt werden. Unter Pflicht verstehen wir nicht die einfache Unterwerfung unter die Ge¬ setze der Vernunft, was man dahin total mißverstehen könnte, als ob nun jeder die Vernunft für sich allein besäße und so statt eines Herrn deren tausende aufträten; es ist nicht die individuelle Vernunft, sondern vielmehr die göttliche Vernunft, welche von uns in jedem Augenblicke bestimmte konkrete Leistungen, d. h. Pflichten fordert. Aufgabe der individuellen Vernunft ist es, diese göttlichen Gebote auch als Forderungen der eigenen Vernunft zu begreifen. Wir können die göttliche Vernunft in ihrer Wirkung nur nach Analogie der eigenen denken, als ein durch stete Sittlichkeitsakte werdendes Vernunftreich. Jedes vernünftige Wesen ist ein Mitarbeiter an diesem Vernunftreiche, sofern es sittlich, d. h. frei handelt, sonst nicht. Der Anfang dieses Vernunftreiches hat in den Grundwahrheiten der Religionen, in den Gesetzen des Staates und in der Ethik der Philosophie schon historische Gestaltung erhalten, und an den Geringsten unter uns ergeht der Ruf, in jedem Augenblicke seines Lebens dieses Reich der Vernunft ausbauen zu helfen. Dabei stellt sich heraus, ein wie großer Unterschied zwischen der bloßen Gesetzlichkeit (Legalität) und der Sitt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/324>, abgerufen am 26.08.2024.