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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Seele in ihr Ich zurückgedrängt, ohne Stützpunkt, ohne Licht. Unser Schwur
hat keinen Sinn mehr! Der Verdacht, welcher die Grundsätze trifft, hängt sich
an die Menschen. Selbst die weniger Aengstlichen suhlen es und werden un¬
ruhig. ,Es gibt keinen Respekt mehr/ sagte ein Geschäftsmann zu mir; ,wie
jener Kaiser, der sich einen Gott werden fühlte, so fühle ich mich zum Spitz¬
buben werden, und ich frage mich, an was ich eigentlich glaubte, als ich an
die Ehre glaubte/ Auch diejenigen Stände, welche ihr Amt und ihre Tradition
schützen sollten, verhehlen sich nicht, daß sie den Zusammenbruch des moralischen
Lebens in ihren Herzen verspüren." So schrieb Proudhon über Frankreich,
aber es paßt zum Theil auch auf Deutschland.

Aus solchem Boden keimt und entspringt entweder der kalte, kalkulirende
Verbrecher, angethan mit all dem finsteren Irrthum des Egoismus, oder der
haltlose und phantastische Romauheld, der Held des hohlen Wortes und des
planlosen Handelns, welcher unerreichbaren Utopien nachjagt und in dem Hoch¬
muthe seines Herzens, im Schlepptau der Leidenschaft, die Gesetze aller Autori¬
täten frech zu übertreten sich anmaßt. Nur der Mangel an Erkenntniß und
die pathologisch-krankhafte Verfassung des Willens schützt deu Romanhelden
meistens vor dem bewußten Verbrecherthum. Wenn das Maß der Erkenntniß
das Maß der sittlichen -- nicht der gesetzlichen! -- Schuld bildet, so ist bei
dem Romanhelden die Verblendung oft so groß, daß die tollsten Ueberschwäng-
lichkeiten und Narrheiten bona, nah geschehen. Die gemeine Pflicht und
Schuldigkeit, welche bei jedem, auch dem kleinsten Schritte durchs Leben nur
vermittelst rationaler Selbstkritik ausreichend geübt werden kann, findet der
Romanheld klein und verächtlich; er glaubt, eine Ausnahmestellung in der
Welt einzunehmen, und vertraut daher freventlich auf seinen "Stern".

Der Romanheld ist ein ethischer Zukunftsmusiker; mit Begeisterung ver¬
ehrt er das "Morgen", mit Geringschätzung blickt er auf das "ewig Gestrige",
ohne Verständniß wandelt er durch das "Heute". Der Egoist bezieht das All
auf sich, der Romanheld bezieht sich ans das All, er glaubt, es müsse ohne
ihn verkümmern; er ist im Stande, Großes für die Menschheit zu leisten, und
wer nicht tief blickt, hält sein Thun gar für pflichtgemäße Seelengröße. Die
unbesonnene Maßlosigkeit solcher Naturen ist ein echt deutscher Zug, es ist der
planlose turor wutonieus. Tausend Menschen hören wir reden und sehen wir
handeln, und es fällt ihnen nicht ein, nach dem Warum zu fragen, dunkle
Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen; sie bleiben
immer unmündig, und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls; das Glück genießen
sie nur halb, das Unglück fühlen sie doppelt, in Beidem verschwenden sie ihre
Kräfte über alle ökonomische Gebühr.

Kann ein Volk die Vorübungs - Stufe des Romanheldenthums nicht


Seele in ihr Ich zurückgedrängt, ohne Stützpunkt, ohne Licht. Unser Schwur
hat keinen Sinn mehr! Der Verdacht, welcher die Grundsätze trifft, hängt sich
an die Menschen. Selbst die weniger Aengstlichen suhlen es und werden un¬
ruhig. ,Es gibt keinen Respekt mehr/ sagte ein Geschäftsmann zu mir; ,wie
jener Kaiser, der sich einen Gott werden fühlte, so fühle ich mich zum Spitz¬
buben werden, und ich frage mich, an was ich eigentlich glaubte, als ich an
die Ehre glaubte/ Auch diejenigen Stände, welche ihr Amt und ihre Tradition
schützen sollten, verhehlen sich nicht, daß sie den Zusammenbruch des moralischen
Lebens in ihren Herzen verspüren." So schrieb Proudhon über Frankreich,
aber es paßt zum Theil auch auf Deutschland.

Aus solchem Boden keimt und entspringt entweder der kalte, kalkulirende
Verbrecher, angethan mit all dem finsteren Irrthum des Egoismus, oder der
haltlose und phantastische Romauheld, der Held des hohlen Wortes und des
planlosen Handelns, welcher unerreichbaren Utopien nachjagt und in dem Hoch¬
muthe seines Herzens, im Schlepptau der Leidenschaft, die Gesetze aller Autori¬
täten frech zu übertreten sich anmaßt. Nur der Mangel an Erkenntniß und
die pathologisch-krankhafte Verfassung des Willens schützt deu Romanhelden
meistens vor dem bewußten Verbrecherthum. Wenn das Maß der Erkenntniß
das Maß der sittlichen — nicht der gesetzlichen! — Schuld bildet, so ist bei
dem Romanhelden die Verblendung oft so groß, daß die tollsten Ueberschwäng-
lichkeiten und Narrheiten bona, nah geschehen. Die gemeine Pflicht und
Schuldigkeit, welche bei jedem, auch dem kleinsten Schritte durchs Leben nur
vermittelst rationaler Selbstkritik ausreichend geübt werden kann, findet der
Romanheld klein und verächtlich; er glaubt, eine Ausnahmestellung in der
Welt einzunehmen, und vertraut daher freventlich auf seinen „Stern".

Der Romanheld ist ein ethischer Zukunftsmusiker; mit Begeisterung ver¬
ehrt er das „Morgen", mit Geringschätzung blickt er auf das „ewig Gestrige",
ohne Verständniß wandelt er durch das „Heute". Der Egoist bezieht das All
auf sich, der Romanheld bezieht sich ans das All, er glaubt, es müsse ohne
ihn verkümmern; er ist im Stande, Großes für die Menschheit zu leisten, und
wer nicht tief blickt, hält sein Thun gar für pflichtgemäße Seelengröße. Die
unbesonnene Maßlosigkeit solcher Naturen ist ein echt deutscher Zug, es ist der
planlose turor wutonieus. Tausend Menschen hören wir reden und sehen wir
handeln, und es fällt ihnen nicht ein, nach dem Warum zu fragen, dunkle
Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen; sie bleiben
immer unmündig, und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls; das Glück genießen
sie nur halb, das Unglück fühlen sie doppelt, in Beidem verschwenden sie ihre
Kräfte über alle ökonomische Gebühr.

Kann ein Volk die Vorübungs - Stufe des Romanheldenthums nicht


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[0323] Seele in ihr Ich zurückgedrängt, ohne Stützpunkt, ohne Licht. Unser Schwur hat keinen Sinn mehr! Der Verdacht, welcher die Grundsätze trifft, hängt sich an die Menschen. Selbst die weniger Aengstlichen suhlen es und werden un¬ ruhig. ,Es gibt keinen Respekt mehr/ sagte ein Geschäftsmann zu mir; ,wie jener Kaiser, der sich einen Gott werden fühlte, so fühle ich mich zum Spitz¬ buben werden, und ich frage mich, an was ich eigentlich glaubte, als ich an die Ehre glaubte/ Auch diejenigen Stände, welche ihr Amt und ihre Tradition schützen sollten, verhehlen sich nicht, daß sie den Zusammenbruch des moralischen Lebens in ihren Herzen verspüren." So schrieb Proudhon über Frankreich, aber es paßt zum Theil auch auf Deutschland. Aus solchem Boden keimt und entspringt entweder der kalte, kalkulirende Verbrecher, angethan mit all dem finsteren Irrthum des Egoismus, oder der haltlose und phantastische Romauheld, der Held des hohlen Wortes und des planlosen Handelns, welcher unerreichbaren Utopien nachjagt und in dem Hoch¬ muthe seines Herzens, im Schlepptau der Leidenschaft, die Gesetze aller Autori¬ täten frech zu übertreten sich anmaßt. Nur der Mangel an Erkenntniß und die pathologisch-krankhafte Verfassung des Willens schützt deu Romanhelden meistens vor dem bewußten Verbrecherthum. Wenn das Maß der Erkenntniß das Maß der sittlichen — nicht der gesetzlichen! — Schuld bildet, so ist bei dem Romanhelden die Verblendung oft so groß, daß die tollsten Ueberschwäng- lichkeiten und Narrheiten bona, nah geschehen. Die gemeine Pflicht und Schuldigkeit, welche bei jedem, auch dem kleinsten Schritte durchs Leben nur vermittelst rationaler Selbstkritik ausreichend geübt werden kann, findet der Romanheld klein und verächtlich; er glaubt, eine Ausnahmestellung in der Welt einzunehmen, und vertraut daher freventlich auf seinen „Stern". Der Romanheld ist ein ethischer Zukunftsmusiker; mit Begeisterung ver¬ ehrt er das „Morgen", mit Geringschätzung blickt er auf das „ewig Gestrige", ohne Verständniß wandelt er durch das „Heute". Der Egoist bezieht das All auf sich, der Romanheld bezieht sich ans das All, er glaubt, es müsse ohne ihn verkümmern; er ist im Stande, Großes für die Menschheit zu leisten, und wer nicht tief blickt, hält sein Thun gar für pflichtgemäße Seelengröße. Die unbesonnene Maßlosigkeit solcher Naturen ist ein echt deutscher Zug, es ist der planlose turor wutonieus. Tausend Menschen hören wir reden und sehen wir handeln, und es fällt ihnen nicht ein, nach dem Warum zu fragen, dunkle Neigungen leiten sie, der Augenblick bestimmt ihre Handlungen; sie bleiben immer unmündig, und ihr Schicksal ein Spiel des Zufalls; das Glück genießen sie nur halb, das Unglück fühlen sie doppelt, in Beidem verschwenden sie ihre Kräfte über alle ökonomische Gebühr. Kann ein Volk die Vorübungs - Stufe des Romanheldenthums nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/323>, abgerufen am 26.08.2024.