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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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wenn Karl Grün in seinem Buche über Italien Goethe einen "Beleidiger der
mgMtÄS duiuÄNg.^ einen grüßen Verbrecher" nannte; wenn der Journalist
Hoffmann über Schillers "Jungfrau von Orleans" sagen konnte: "Der Mensch,
der eine so erbärmliche Tragödie verfertigt hat, verdiente auf öffentlichem
Markte ausgepeitscht zu werden"; wenn die Wiener Musikzeitung über Beethoven
urtheilte, in seinen Kompositionen "könne nicht das geringste Talent entdeckt
werden"; wenn die Zeitschrift "Caecilia" Beethovens "Eroiea" die "Ausgeburt
eines Wahnsinnigen" nennt und der Kantor Schicht von der Thomaskirche in
Leipzig Beethoven gar ein "musikalisches Schwein" titulirte? Nicht viel anders ist
es, wenn Thomas Rymer sagte, daß "ein Affe mehr Geschmack besitze als Shake¬
speare", wenn Hegel nach der Vorlesung des "Othello" durch Tieck meinte:
"Wie zerrissen muß dieser Mensch gewesen sein, daß er das so darstellen
konnte!" Man glaube, trotz aller Entschuldigungen, die sich im einzelnen Falle
vielleicht vorbringen lassen, nicht, daß derartiges vereinzelte Aussprüche von
Narren gewesen seien. Der Xenienkampf Goethes und Schillers, Mozarts ver¬
lorenes Grab und der vereinsamte Beethoven beweisen das Gegentheil. Und haben
wir wirklich noch nöthig, auf die beschämenden Ereignisse im Mai und Juni 1878
und auf jene Verleumdungs-Aera hinzuweisen, welche den größten Staatsmann
unseres Jahrhunderts zwang, sich durch die Gerichte zu schleppen, um darzu¬
thun, daß seine Hände rein seien von unrechten Gut? Man lese die Tages¬
blätter aller Parteien ans den letzten Jahren, man sehe die Verblendung und
den Hochmuth, der nicht an dem, was geschehen war, mitschuldig sein wollte
und voll sittlicher Entrüstung bestritt, am deutschen Volksgeiste schwer gefrevelt
zu haben, man sehe die dann abermals beginnende Selbstzerfleischung Dentsch-
lands, )>le abermals beginnende trostlose Zerfahrenheit der Gesinnungen, die
unfruchtbare Rechthaberei, man sehe den kleinlichen Neid und die erbärmliche
Mißgunst gegenüber wahrem Verdienste (Schliemanns Ausgrabungen, die letzte
Schillerpreis-Vertheilung u. a.), das geniale Pochen der Großen auf Theorien
und Prinzipien, die Lethargie und das passive Sichgehenlassen der Kleinen --
plötzlich erkennt man dasselbe Volk wieder, das den dreißigjährigen Krieg erzeugte!

Ist einmal die zersetzende Skepsis der Antoritätslosigkeit eingetreten, so ist
jedes Anfachen des Enthusiasmus für Edles und Gutes nur auf Grund des
Gefühlslebens gefährlich und muß zum Nomanheldenthum führen. "Die
Zweifelsucht, nachdem sie Religion und Politik verwüstet hat, wirft sich auf
die Moral, und darin besteht die moderne Auflösung. Aehnliches hat sich
schon in der griechischen und römischen Verfallzeit gezeigt. Die Moral ist in
ihrem Innersten getroffen, Nichts hält mehr Stich, das Ausreißen ist allgemein,
keine Institution, die Achtung genösse, kein Prinzip, das nicht geleugnet und
verhöhnt würde. Keine Autorität mehr, weder geistliche noch weltliche! Jede


wenn Karl Grün in seinem Buche über Italien Goethe einen „Beleidiger der
mgMtÄS duiuÄNg.^ einen grüßen Verbrecher" nannte; wenn der Journalist
Hoffmann über Schillers „Jungfrau von Orleans" sagen konnte: „Der Mensch,
der eine so erbärmliche Tragödie verfertigt hat, verdiente auf öffentlichem
Markte ausgepeitscht zu werden"; wenn die Wiener Musikzeitung über Beethoven
urtheilte, in seinen Kompositionen „könne nicht das geringste Talent entdeckt
werden"; wenn die Zeitschrift „Caecilia" Beethovens „Eroiea" die „Ausgeburt
eines Wahnsinnigen" nennt und der Kantor Schicht von der Thomaskirche in
Leipzig Beethoven gar ein „musikalisches Schwein" titulirte? Nicht viel anders ist
es, wenn Thomas Rymer sagte, daß „ein Affe mehr Geschmack besitze als Shake¬
speare", wenn Hegel nach der Vorlesung des „Othello" durch Tieck meinte:
„Wie zerrissen muß dieser Mensch gewesen sein, daß er das so darstellen
konnte!" Man glaube, trotz aller Entschuldigungen, die sich im einzelnen Falle
vielleicht vorbringen lassen, nicht, daß derartiges vereinzelte Aussprüche von
Narren gewesen seien. Der Xenienkampf Goethes und Schillers, Mozarts ver¬
lorenes Grab und der vereinsamte Beethoven beweisen das Gegentheil. Und haben
wir wirklich noch nöthig, auf die beschämenden Ereignisse im Mai und Juni 1878
und auf jene Verleumdungs-Aera hinzuweisen, welche den größten Staatsmann
unseres Jahrhunderts zwang, sich durch die Gerichte zu schleppen, um darzu¬
thun, daß seine Hände rein seien von unrechten Gut? Man lese die Tages¬
blätter aller Parteien ans den letzten Jahren, man sehe die Verblendung und
den Hochmuth, der nicht an dem, was geschehen war, mitschuldig sein wollte
und voll sittlicher Entrüstung bestritt, am deutschen Volksgeiste schwer gefrevelt
zu haben, man sehe die dann abermals beginnende Selbstzerfleischung Dentsch-
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unfruchtbare Rechthaberei, man sehe den kleinlichen Neid und die erbärmliche
Mißgunst gegenüber wahrem Verdienste (Schliemanns Ausgrabungen, die letzte
Schillerpreis-Vertheilung u. a.), das geniale Pochen der Großen auf Theorien
und Prinzipien, die Lethargie und das passive Sichgehenlassen der Kleinen —
plötzlich erkennt man dasselbe Volk wieder, das den dreißigjährigen Krieg erzeugte!

Ist einmal die zersetzende Skepsis der Antoritätslosigkeit eingetreten, so ist
jedes Anfachen des Enthusiasmus für Edles und Gutes nur auf Grund des
Gefühlslebens gefährlich und muß zum Nomanheldenthum führen. „Die
Zweifelsucht, nachdem sie Religion und Politik verwüstet hat, wirft sich auf
die Moral, und darin besteht die moderne Auflösung. Aehnliches hat sich
schon in der griechischen und römischen Verfallzeit gezeigt. Die Moral ist in
ihrem Innersten getroffen, Nichts hält mehr Stich, das Ausreißen ist allgemein,
keine Institution, die Achtung genösse, kein Prinzip, das nicht geleugnet und
verhöhnt würde. Keine Autorität mehr, weder geistliche noch weltliche! Jede


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[0322] wenn Karl Grün in seinem Buche über Italien Goethe einen „Beleidiger der mgMtÄS duiuÄNg.^ einen grüßen Verbrecher" nannte; wenn der Journalist Hoffmann über Schillers „Jungfrau von Orleans" sagen konnte: „Der Mensch, der eine so erbärmliche Tragödie verfertigt hat, verdiente auf öffentlichem Markte ausgepeitscht zu werden"; wenn die Wiener Musikzeitung über Beethoven urtheilte, in seinen Kompositionen „könne nicht das geringste Talent entdeckt werden"; wenn die Zeitschrift „Caecilia" Beethovens „Eroiea" die „Ausgeburt eines Wahnsinnigen" nennt und der Kantor Schicht von der Thomaskirche in Leipzig Beethoven gar ein „musikalisches Schwein" titulirte? Nicht viel anders ist es, wenn Thomas Rymer sagte, daß „ein Affe mehr Geschmack besitze als Shake¬ speare", wenn Hegel nach der Vorlesung des „Othello" durch Tieck meinte: „Wie zerrissen muß dieser Mensch gewesen sein, daß er das so darstellen konnte!" Man glaube, trotz aller Entschuldigungen, die sich im einzelnen Falle vielleicht vorbringen lassen, nicht, daß derartiges vereinzelte Aussprüche von Narren gewesen seien. Der Xenienkampf Goethes und Schillers, Mozarts ver¬ lorenes Grab und der vereinsamte Beethoven beweisen das Gegentheil. Und haben wir wirklich noch nöthig, auf die beschämenden Ereignisse im Mai und Juni 1878 und auf jene Verleumdungs-Aera hinzuweisen, welche den größten Staatsmann unseres Jahrhunderts zwang, sich durch die Gerichte zu schleppen, um darzu¬ thun, daß seine Hände rein seien von unrechten Gut? Man lese die Tages¬ blätter aller Parteien ans den letzten Jahren, man sehe die Verblendung und den Hochmuth, der nicht an dem, was geschehen war, mitschuldig sein wollte und voll sittlicher Entrüstung bestritt, am deutschen Volksgeiste schwer gefrevelt zu haben, man sehe die dann abermals beginnende Selbstzerfleischung Dentsch- lands, )>le abermals beginnende trostlose Zerfahrenheit der Gesinnungen, die unfruchtbare Rechthaberei, man sehe den kleinlichen Neid und die erbärmliche Mißgunst gegenüber wahrem Verdienste (Schliemanns Ausgrabungen, die letzte Schillerpreis-Vertheilung u. a.), das geniale Pochen der Großen auf Theorien und Prinzipien, die Lethargie und das passive Sichgehenlassen der Kleinen — plötzlich erkennt man dasselbe Volk wieder, das den dreißigjährigen Krieg erzeugte! Ist einmal die zersetzende Skepsis der Antoritätslosigkeit eingetreten, so ist jedes Anfachen des Enthusiasmus für Edles und Gutes nur auf Grund des Gefühlslebens gefährlich und muß zum Nomanheldenthum führen. „Die Zweifelsucht, nachdem sie Religion und Politik verwüstet hat, wirft sich auf die Moral, und darin besteht die moderne Auflösung. Aehnliches hat sich schon in der griechischen und römischen Verfallzeit gezeigt. Die Moral ist in ihrem Innersten getroffen, Nichts hält mehr Stich, das Ausreißen ist allgemein, keine Institution, die Achtung genösse, kein Prinzip, das nicht geleugnet und verhöhnt würde. Keine Autorität mehr, weder geistliche noch weltliche! Jede

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/322>, abgerufen am 26.08.2024.