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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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unter dem Titel der "Belehrung für die reifere Jugend" berauschendes Gift
in das Blut der jüngern Generation geflößt, das nur durch des Lebens Mühe
und Noth wieder herausgeschafft werden kann. Die Phantasie wird auf Kosten
des Verstandes überreizt, ein falscher Ehrgeiz genährt, und ein romanhaftes
Bild des wirklichen Lebens setzt sich in den jungen Köpfen fest. Das Resul¬
tat ist: grenzenlose Unerfahrenheit und eigensinnige Verkennung des Thatsäch¬
lichen, Maßlosigkeit und Unbesonnenheit wegen mangelnder Erkenntniß der
Grundsätze der Pflicht. Die ihrer Zeit berühmten Schleiermacherschen Mono¬
loge gehören auch hierher als ein hervorragendes Kennzeichen der moralischen
Gefühlsschwärmerei einer ganzen Epoche. Es wird darin geradezu als haupt¬
sächlichstes Mittel zur Tugend das Festhalten an Momenten erhabener Stim¬
mung im Leben gepredigt. Das klingt recht gut und schön, hält aber nicht
Stich und hat nur als Vorübung Werth. Durch die Ueberreizung der Phan¬
tasie vor dem Verstände wird das Wollen krankhaft stimulirt, ohne daß zugleich
auch das Sollen, das Erkennen der Pflicht, entsprechend erweitert würde. Kurz,
mit der Milch des Großartigen, Ueberverdienstlichen, Fernliegenden gesäugt,
entwickeln sich naturgemäß jene faustischen Charaktere, jene Ueberflieger, jene
fahrigen Gesellen und kosmopolitischen Phrasendrescher, denen mit anderer
Nahrung der Weg durch die Hölle erspart bleiben könnte.

Alles dies ist schon Historie geworden und liegt unserer Generation in
Fleisch und Blut. Daß hierin trotz alledem auch die Anfänge, aber auch nur
die Anfänge einer fortschreitenden Moral liegen, daß man nur durch die Au-
tvritätslosigkeit und durch alle Heteronomie des Gefühls zur Autonomie der
Vernunft und zur Freiheit als einer Qualität des Bestimmtwerdens durch
Selbstbestimmung, die "nicht Natur" ist, gelangen kann, und daß dies schon
von Kant vor fast 100 Jahren, wenigstens in großen Umrissen, erkannt worden
ist, läßt sich hier nur andeuten. Theoretisch betrachtet, ist die Autoritätslosigkeit
ein Weg zum sittlichen Fortschritt, und alle Gefühlsemotion für das Ueberschwäng-
liche ein Fortschritt gegenüber der Versteinerung des Willens durch den Egoismus.

Die Entwickelung des deutschen Geisteslebens aus der Naturunter-
thänigkeit zur Freiheit, zur autonomen Sittlichkeit, ist bezeichnet durch eine
Epoche völliger Autoritätslosigkeit, in der wir gegenwärtig noch leben. Der
Mangel an einem positiven ethischen Wollen erzeugte den humanistischen En¬
thusiasmus für alles Gute, Wahre und Schöne, ohne daß man sich dabei
eigentlich etwas Konkretes dachte, und so ging ethische Schwärmerei und ethische
Haltlosigkeit Hand in Hand. Das Romanheldenthum des Sichgehenlassens
und des propagandistischen Schwcirmens kann allerorten heute beobachtet werden.
Es ist unnöthig, auf die sächsische Race in Amerika mit ihren Extravaganzen
als auf etwas Ungewöhnliches hinzuweisen, es ist vielmehr daran zu erinnern,


unter dem Titel der „Belehrung für die reifere Jugend" berauschendes Gift
in das Blut der jüngern Generation geflößt, das nur durch des Lebens Mühe
und Noth wieder herausgeschafft werden kann. Die Phantasie wird auf Kosten
des Verstandes überreizt, ein falscher Ehrgeiz genährt, und ein romanhaftes
Bild des wirklichen Lebens setzt sich in den jungen Köpfen fest. Das Resul¬
tat ist: grenzenlose Unerfahrenheit und eigensinnige Verkennung des Thatsäch¬
lichen, Maßlosigkeit und Unbesonnenheit wegen mangelnder Erkenntniß der
Grundsätze der Pflicht. Die ihrer Zeit berühmten Schleiermacherschen Mono¬
loge gehören auch hierher als ein hervorragendes Kennzeichen der moralischen
Gefühlsschwärmerei einer ganzen Epoche. Es wird darin geradezu als haupt¬
sächlichstes Mittel zur Tugend das Festhalten an Momenten erhabener Stim¬
mung im Leben gepredigt. Das klingt recht gut und schön, hält aber nicht
Stich und hat nur als Vorübung Werth. Durch die Ueberreizung der Phan¬
tasie vor dem Verstände wird das Wollen krankhaft stimulirt, ohne daß zugleich
auch das Sollen, das Erkennen der Pflicht, entsprechend erweitert würde. Kurz,
mit der Milch des Großartigen, Ueberverdienstlichen, Fernliegenden gesäugt,
entwickeln sich naturgemäß jene faustischen Charaktere, jene Ueberflieger, jene
fahrigen Gesellen und kosmopolitischen Phrasendrescher, denen mit anderer
Nahrung der Weg durch die Hölle erspart bleiben könnte.

Alles dies ist schon Historie geworden und liegt unserer Generation in
Fleisch und Blut. Daß hierin trotz alledem auch die Anfänge, aber auch nur
die Anfänge einer fortschreitenden Moral liegen, daß man nur durch die Au-
tvritätslosigkeit und durch alle Heteronomie des Gefühls zur Autonomie der
Vernunft und zur Freiheit als einer Qualität des Bestimmtwerdens durch
Selbstbestimmung, die „nicht Natur" ist, gelangen kann, und daß dies schon
von Kant vor fast 100 Jahren, wenigstens in großen Umrissen, erkannt worden
ist, läßt sich hier nur andeuten. Theoretisch betrachtet, ist die Autoritätslosigkeit
ein Weg zum sittlichen Fortschritt, und alle Gefühlsemotion für das Ueberschwäng-
liche ein Fortschritt gegenüber der Versteinerung des Willens durch den Egoismus.

Die Entwickelung des deutschen Geisteslebens aus der Naturunter-
thänigkeit zur Freiheit, zur autonomen Sittlichkeit, ist bezeichnet durch eine
Epoche völliger Autoritätslosigkeit, in der wir gegenwärtig noch leben. Der
Mangel an einem positiven ethischen Wollen erzeugte den humanistischen En¬
thusiasmus für alles Gute, Wahre und Schöne, ohne daß man sich dabei
eigentlich etwas Konkretes dachte, und so ging ethische Schwärmerei und ethische
Haltlosigkeit Hand in Hand. Das Romanheldenthum des Sichgehenlassens
und des propagandistischen Schwcirmens kann allerorten heute beobachtet werden.
Es ist unnöthig, auf die sächsische Race in Amerika mit ihren Extravaganzen
als auf etwas Ungewöhnliches hinzuweisen, es ist vielmehr daran zu erinnern,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/318>, abgerufen am 23.07.2024.