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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Das Christenthum hielt aber den Gedanken der Transcendenz hoch über
die Jahrhunderte und entwickelte ihn im Kampfe mit der Reflexion aus seinen
mystischen Anfängen bis zu der immer klarer werdenden Forderung der Er¬
füllung des göttlichen Willens, so die Orthodoxie zeugend (katholische und evan¬
gelische), und bis zu der Idee der sittlichen, freien Persönlichkeit, als der Grund¬
lage einer systematischen Theologie der Zukunft.

Wie der dumpfen, starren Kausalität der Naturmächte diese Transcendenz
gegenübersteht, so dem Sensualismus der Rationalismus, dem Materialismus
der wirkliche Idealismus, dem Sichgehenlassen die Selbstbestimmung, der Natur
die Freiheit.

Der Darwinismus scheint der letzte gigantische Kampf gewesen zu sein,
um die Resultate einer rationalen Ethik zu stürzen oder doch zu modifiziren,
denn im Darwinismus erhebt noch einmal der Triumph der Naturwissen¬
schaften den Anspruch, mit der Nothwendigkeit des Naturgesetzes die letzte und
ausreichende Welterklärung gegeben zu haben. Dies ist im Grunde Sen¬
sualismus. Die kantische Ethik dagegen ist der erste wirkliche Schritt zur
philosophischen Erklärung der Grundidee des Christenthums, und mit diesem
Schritte kommt sie auch praktisch über das aktuelle Christenthum hinaus. Die
kantische Ethik ist in hervorragendem Sinne Rationalismus. Dieser Rationa¬
lismus ist aber nur laut unserer frühern Definition zu verstehen, als ein
Rationalismus, "der nicht Natur ist". Es wäre nicht schwer, darzuthun, wie
ein solcher enge Berührung mit der Transcendenz des Christenthums hat. Nur
hat sich das letztere schon in praktischen, großen, historischen Formen darge¬
stellt, und zwar meistens unter Zugrundelegung seiner mystischen Elemente; der
Rationalismus aber als solcher ist praktisch fast noch ohne Formen und aus
der philosophischen Doktrin heraus nur im Leben Einzelner zur praktischen
Anwendung gekommen.

Die Mystik des Christenthums hat sich durch fast zwei Jahrtausende in
allen möglichen Formen erschöpft, sie ist im extremen Freidenkerthum des Pro¬
testantismus fast zur eigenen Verneinung vorgeschritten, im Pietismus zur
schwärmerischen Unklarheit zurückgegangen, in der Jnfallibilität des Katholizis¬
mus, der großartigsten Manifestation der kirchlich-autoritativen Kräfte, zur
heteronomen Autorität (Gegensatz von Autonomie) erhoben worden, im Alt¬
katholizismus zur Halbheit herabgesunken. Das sind die praktischen Resultate
des Idealismus. Die Autorität, wenn auch Heteronomie, war doch immer
eine Autorität. Der Versuch blieb ein ohnmächtiger, aber das Mittel entsprach
wenigstens an Kühnheit der Größe der Gefahr. Demgegenüber hat der deut¬
sche Protestantismus, auch derjenige, welcher die Wege des Rationalismus
wanderte, bisher nichts Aehnliches, ja überhaupt kaum etwas Konkretes hervor-


Das Christenthum hielt aber den Gedanken der Transcendenz hoch über
die Jahrhunderte und entwickelte ihn im Kampfe mit der Reflexion aus seinen
mystischen Anfängen bis zu der immer klarer werdenden Forderung der Er¬
füllung des göttlichen Willens, so die Orthodoxie zeugend (katholische und evan¬
gelische), und bis zu der Idee der sittlichen, freien Persönlichkeit, als der Grund¬
lage einer systematischen Theologie der Zukunft.

Wie der dumpfen, starren Kausalität der Naturmächte diese Transcendenz
gegenübersteht, so dem Sensualismus der Rationalismus, dem Materialismus
der wirkliche Idealismus, dem Sichgehenlassen die Selbstbestimmung, der Natur
die Freiheit.

Der Darwinismus scheint der letzte gigantische Kampf gewesen zu sein,
um die Resultate einer rationalen Ethik zu stürzen oder doch zu modifiziren,
denn im Darwinismus erhebt noch einmal der Triumph der Naturwissen¬
schaften den Anspruch, mit der Nothwendigkeit des Naturgesetzes die letzte und
ausreichende Welterklärung gegeben zu haben. Dies ist im Grunde Sen¬
sualismus. Die kantische Ethik dagegen ist der erste wirkliche Schritt zur
philosophischen Erklärung der Grundidee des Christenthums, und mit diesem
Schritte kommt sie auch praktisch über das aktuelle Christenthum hinaus. Die
kantische Ethik ist in hervorragendem Sinne Rationalismus. Dieser Rationa¬
lismus ist aber nur laut unserer frühern Definition zu verstehen, als ein
Rationalismus, „der nicht Natur ist". Es wäre nicht schwer, darzuthun, wie
ein solcher enge Berührung mit der Transcendenz des Christenthums hat. Nur
hat sich das letztere schon in praktischen, großen, historischen Formen darge¬
stellt, und zwar meistens unter Zugrundelegung seiner mystischen Elemente; der
Rationalismus aber als solcher ist praktisch fast noch ohne Formen und aus
der philosophischen Doktrin heraus nur im Leben Einzelner zur praktischen
Anwendung gekommen.

Die Mystik des Christenthums hat sich durch fast zwei Jahrtausende in
allen möglichen Formen erschöpft, sie ist im extremen Freidenkerthum des Pro¬
testantismus fast zur eigenen Verneinung vorgeschritten, im Pietismus zur
schwärmerischen Unklarheit zurückgegangen, in der Jnfallibilität des Katholizis¬
mus, der großartigsten Manifestation der kirchlich-autoritativen Kräfte, zur
heteronomen Autorität (Gegensatz von Autonomie) erhoben worden, im Alt¬
katholizismus zur Halbheit herabgesunken. Das sind die praktischen Resultate
des Idealismus. Die Autorität, wenn auch Heteronomie, war doch immer
eine Autorität. Der Versuch blieb ein ohnmächtiger, aber das Mittel entsprach
wenigstens an Kühnheit der Größe der Gefahr. Demgegenüber hat der deut¬
sche Protestantismus, auch derjenige, welcher die Wege des Rationalismus
wanderte, bisher nichts Aehnliches, ja überhaupt kaum etwas Konkretes hervor-


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[0316] Das Christenthum hielt aber den Gedanken der Transcendenz hoch über die Jahrhunderte und entwickelte ihn im Kampfe mit der Reflexion aus seinen mystischen Anfängen bis zu der immer klarer werdenden Forderung der Er¬ füllung des göttlichen Willens, so die Orthodoxie zeugend (katholische und evan¬ gelische), und bis zu der Idee der sittlichen, freien Persönlichkeit, als der Grund¬ lage einer systematischen Theologie der Zukunft. Wie der dumpfen, starren Kausalität der Naturmächte diese Transcendenz gegenübersteht, so dem Sensualismus der Rationalismus, dem Materialismus der wirkliche Idealismus, dem Sichgehenlassen die Selbstbestimmung, der Natur die Freiheit. Der Darwinismus scheint der letzte gigantische Kampf gewesen zu sein, um die Resultate einer rationalen Ethik zu stürzen oder doch zu modifiziren, denn im Darwinismus erhebt noch einmal der Triumph der Naturwissen¬ schaften den Anspruch, mit der Nothwendigkeit des Naturgesetzes die letzte und ausreichende Welterklärung gegeben zu haben. Dies ist im Grunde Sen¬ sualismus. Die kantische Ethik dagegen ist der erste wirkliche Schritt zur philosophischen Erklärung der Grundidee des Christenthums, und mit diesem Schritte kommt sie auch praktisch über das aktuelle Christenthum hinaus. Die kantische Ethik ist in hervorragendem Sinne Rationalismus. Dieser Rationa¬ lismus ist aber nur laut unserer frühern Definition zu verstehen, als ein Rationalismus, „der nicht Natur ist". Es wäre nicht schwer, darzuthun, wie ein solcher enge Berührung mit der Transcendenz des Christenthums hat. Nur hat sich das letztere schon in praktischen, großen, historischen Formen darge¬ stellt, und zwar meistens unter Zugrundelegung seiner mystischen Elemente; der Rationalismus aber als solcher ist praktisch fast noch ohne Formen und aus der philosophischen Doktrin heraus nur im Leben Einzelner zur praktischen Anwendung gekommen. Die Mystik des Christenthums hat sich durch fast zwei Jahrtausende in allen möglichen Formen erschöpft, sie ist im extremen Freidenkerthum des Pro¬ testantismus fast zur eigenen Verneinung vorgeschritten, im Pietismus zur schwärmerischen Unklarheit zurückgegangen, in der Jnfallibilität des Katholizis¬ mus, der großartigsten Manifestation der kirchlich-autoritativen Kräfte, zur heteronomen Autorität (Gegensatz von Autonomie) erhoben worden, im Alt¬ katholizismus zur Halbheit herabgesunken. Das sind die praktischen Resultate des Idealismus. Die Autorität, wenn auch Heteronomie, war doch immer eine Autorität. Der Versuch blieb ein ohnmächtiger, aber das Mittel entsprach wenigstens an Kühnheit der Größe der Gefahr. Demgegenüber hat der deut¬ sche Protestantismus, auch derjenige, welcher die Wege des Rationalismus wanderte, bisher nichts Aehnliches, ja überhaupt kaum etwas Konkretes hervor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/316>, abgerufen am 23.07.2024.