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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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ihrem Extrem, dem Materialismus. Von Condillac und Helvetius kam man
zu Voltaire, de la Mettrie und v. Holbach, von Locke zu Alexander v. Hum¬
boldt und Darwin.

In der Geschichte der Religionen findet sich eine ähnliche, wenn auch uicht
so übersichtliche Jdeengruppirung. Die antiken Religionen sind im Grunde
nichts Anderes als Naturreligionen, d. h. solche, deren höchstes Wesen, "der
unbewegte Beweger", der letzte Grund einer metaphysischen Welterklärung ist.
Die unendliche Kausalreihe der Gesetze der Natur schließt ab in einer höchsten
Ursache, welche causa fru ist. Es ist die Personifikation des Naturgesetzes
selbst. Diese Personifikation ist logisch ganz unberechtigt und nur durch die
Phantasie suppeditirt, insofern als innerhalb der Natur nichts weiter gegeben
ist als die unendliche Kausalreihe ni inäsknitum, aber kein Abschluß dieser
Reihe. Erst das Christenthum weist auf etwas hin, was nicht Natur ist. Daß
dieser große Gegensatz zwischen antiker und christlicher Auffassung von den
Kirchenvätern übersehen wurde, kommt daher, daß dieselben ebenso wie die
Scholastiker, den Angriffen des gebildeten Heidenthums gegenüber, die scheinbare
Uebereinstimmung der aristotelischen Lehren mit einigen Grundwahrheiten des
Christenthums gern acceptirten. Dies ändert aber an der Thatsache nichts,
daß erst das Christenthum durch den Vorsehungsglauben zum ersten Mal den
Begriff einer eigenthümlichen Transcendenz in die Welt brachte.

Der konsequente Sensualismus mußte zum Gesetz der durchgängigen
Naturnothwendigkeit des Kausalzusammenhanges gelangen. Die starre Noth¬
wendigkeit ist sein letztes Wort, der Fatalismus seine religiöse Konsequenz, der
Quietismus, ein völliges Sichgehenlassen, seine praktische Bedeutung. Hier
liegt die eine der Wurzeln des "Romanheldenthums", von dem wir hier sprechen
wollen.

Es gibt aber auch einen gewissen Idealismus, der ebenso wie der Sensua¬
lismus die quietistische Grundlage des Romanheldenthums, das "Sichgehen¬
lassen", gefördert hat. Dieser Idealismus intellektuirte die Natur und sah in
der Vernunft eine hochverfeinerte Natur, gleich dem Anaxagoras, dem der
voös die Welt regierte. Alle jene Systeme: von der prästabilirten Harmonie,
dem Hegelschen Aristotelismus, dem Schopenhauerschen Willen, stehen im Grunde
auf dem Standpunkte der ethischen Anschauung der Antike, theils zur Svkratik,
theils zur Stoa, theils zum Platonismus oder Aristotelismus hinneigend. Sie
kommen, trotz ihrer Schlagwörter von der absoluten oder ewigen Vernunft, im
letzten Grunde nicht über die Kausalität der Natur hinaus, und ihnen allen
war der große Religionsstifter, der da sagte: "Mein Reich ist nicht von dieser
Welt", ethisch überlegen, wenn jene ihn auch metaphysisch bei weitem über¬
sahen und widerlegten.


ihrem Extrem, dem Materialismus. Von Condillac und Helvetius kam man
zu Voltaire, de la Mettrie und v. Holbach, von Locke zu Alexander v. Hum¬
boldt und Darwin.

In der Geschichte der Religionen findet sich eine ähnliche, wenn auch uicht
so übersichtliche Jdeengruppirung. Die antiken Religionen sind im Grunde
nichts Anderes als Naturreligionen, d. h. solche, deren höchstes Wesen, „der
unbewegte Beweger", der letzte Grund einer metaphysischen Welterklärung ist.
Die unendliche Kausalreihe der Gesetze der Natur schließt ab in einer höchsten
Ursache, welche causa fru ist. Es ist die Personifikation des Naturgesetzes
selbst. Diese Personifikation ist logisch ganz unberechtigt und nur durch die
Phantasie suppeditirt, insofern als innerhalb der Natur nichts weiter gegeben
ist als die unendliche Kausalreihe ni inäsknitum, aber kein Abschluß dieser
Reihe. Erst das Christenthum weist auf etwas hin, was nicht Natur ist. Daß
dieser große Gegensatz zwischen antiker und christlicher Auffassung von den
Kirchenvätern übersehen wurde, kommt daher, daß dieselben ebenso wie die
Scholastiker, den Angriffen des gebildeten Heidenthums gegenüber, die scheinbare
Uebereinstimmung der aristotelischen Lehren mit einigen Grundwahrheiten des
Christenthums gern acceptirten. Dies ändert aber an der Thatsache nichts,
daß erst das Christenthum durch den Vorsehungsglauben zum ersten Mal den
Begriff einer eigenthümlichen Transcendenz in die Welt brachte.

Der konsequente Sensualismus mußte zum Gesetz der durchgängigen
Naturnothwendigkeit des Kausalzusammenhanges gelangen. Die starre Noth¬
wendigkeit ist sein letztes Wort, der Fatalismus seine religiöse Konsequenz, der
Quietismus, ein völliges Sichgehenlassen, seine praktische Bedeutung. Hier
liegt die eine der Wurzeln des „Romanheldenthums", von dem wir hier sprechen
wollen.

Es gibt aber auch einen gewissen Idealismus, der ebenso wie der Sensua¬
lismus die quietistische Grundlage des Romanheldenthums, das „Sichgehen¬
lassen", gefördert hat. Dieser Idealismus intellektuirte die Natur und sah in
der Vernunft eine hochverfeinerte Natur, gleich dem Anaxagoras, dem der
voös die Welt regierte. Alle jene Systeme: von der prästabilirten Harmonie,
dem Hegelschen Aristotelismus, dem Schopenhauerschen Willen, stehen im Grunde
auf dem Standpunkte der ethischen Anschauung der Antike, theils zur Svkratik,
theils zur Stoa, theils zum Platonismus oder Aristotelismus hinneigend. Sie
kommen, trotz ihrer Schlagwörter von der absoluten oder ewigen Vernunft, im
letzten Grunde nicht über die Kausalität der Natur hinaus, und ihnen allen
war der große Religionsstifter, der da sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser
Welt", ethisch überlegen, wenn jene ihn auch metaphysisch bei weitem über¬
sahen und widerlegten.


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[0315] ihrem Extrem, dem Materialismus. Von Condillac und Helvetius kam man zu Voltaire, de la Mettrie und v. Holbach, von Locke zu Alexander v. Hum¬ boldt und Darwin. In der Geschichte der Religionen findet sich eine ähnliche, wenn auch uicht so übersichtliche Jdeengruppirung. Die antiken Religionen sind im Grunde nichts Anderes als Naturreligionen, d. h. solche, deren höchstes Wesen, „der unbewegte Beweger", der letzte Grund einer metaphysischen Welterklärung ist. Die unendliche Kausalreihe der Gesetze der Natur schließt ab in einer höchsten Ursache, welche causa fru ist. Es ist die Personifikation des Naturgesetzes selbst. Diese Personifikation ist logisch ganz unberechtigt und nur durch die Phantasie suppeditirt, insofern als innerhalb der Natur nichts weiter gegeben ist als die unendliche Kausalreihe ni inäsknitum, aber kein Abschluß dieser Reihe. Erst das Christenthum weist auf etwas hin, was nicht Natur ist. Daß dieser große Gegensatz zwischen antiker und christlicher Auffassung von den Kirchenvätern übersehen wurde, kommt daher, daß dieselben ebenso wie die Scholastiker, den Angriffen des gebildeten Heidenthums gegenüber, die scheinbare Uebereinstimmung der aristotelischen Lehren mit einigen Grundwahrheiten des Christenthums gern acceptirten. Dies ändert aber an der Thatsache nichts, daß erst das Christenthum durch den Vorsehungsglauben zum ersten Mal den Begriff einer eigenthümlichen Transcendenz in die Welt brachte. Der konsequente Sensualismus mußte zum Gesetz der durchgängigen Naturnothwendigkeit des Kausalzusammenhanges gelangen. Die starre Noth¬ wendigkeit ist sein letztes Wort, der Fatalismus seine religiöse Konsequenz, der Quietismus, ein völliges Sichgehenlassen, seine praktische Bedeutung. Hier liegt die eine der Wurzeln des „Romanheldenthums", von dem wir hier sprechen wollen. Es gibt aber auch einen gewissen Idealismus, der ebenso wie der Sensua¬ lismus die quietistische Grundlage des Romanheldenthums, das „Sichgehen¬ lassen", gefördert hat. Dieser Idealismus intellektuirte die Natur und sah in der Vernunft eine hochverfeinerte Natur, gleich dem Anaxagoras, dem der voös die Welt regierte. Alle jene Systeme: von der prästabilirten Harmonie, dem Hegelschen Aristotelismus, dem Schopenhauerschen Willen, stehen im Grunde auf dem Standpunkte der ethischen Anschauung der Antike, theils zur Svkratik, theils zur Stoa, theils zum Platonismus oder Aristotelismus hinneigend. Sie kommen, trotz ihrer Schlagwörter von der absoluten oder ewigen Vernunft, im letzten Grunde nicht über die Kausalität der Natur hinaus, und ihnen allen war der große Religionsstifter, der da sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt", ethisch überlegen, wenn jene ihn auch metaphysisch bei weitem über¬ sahen und widerlegten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/315>, abgerufen am 23.07.2024.