Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Stellung dauernd behaupten können." "Große Hoffnungen werden sich an
seinen Abgang freilich nicht knüpfen lassen, nachdem andere Erfahrungen gezeigt
haben, daß unter den gegebenen Verhältnissen die alte Methode der Auswahl
von Ministern die allein mögliche ist."

Viel Aussicht, Tolstoys Nachfolger zu werden, soll der ehemalige Zivil¬
gouverneur von Moskau, Graf Andreas Lieren, haben, ein kaum vierzig¬
jähriger Mann, der dem Unterrichtswesen ganz fern steht und wegen der bei¬
spiellos raschen Karriere, die er gemacht hat, für höchst bestimmbar gilt.
"Keinem Zweige der russischen Verwaltung thut aber die Einsetzung eines von
den Velleitäten des Tages unabhängigen, nach festen Grundsätzen regierenden
Chefs so dringend noth wie dem Unterrichtswesen, das seit zwanzig Jahren
xgr "xosUsucs das Experimentirfeld werdender Staatsmänner gewesen ist. Die
sprichwörtlich gewordene Autoritätslosigkeit unsrer meisterlosen Jugend ist die
direkte Folge davon, daß nahezu jeder der letzten Unterrichtsminister das Gegen¬
theil von dem gethan hat, was unter seinem Vorgänger an der Tagesordnung
war, und daß alle diese Herren nicht die Wohlfahrt der Jugend, sondern die
Zufriedenstellung der jeweiligen offiziellen oder populären Machthaber für ihre
Hauptaufgabe ansahen."

Der Verfasser schließt mit einer Prophezeiung, deren unbedingte Richtigkeit sich
bestreiten lassen wird, die uns aber im ganzen das Rechte zu treffen scheint. Er
sagt: "Was bis jetzt verlangt wird, beschränkt sich auf kontrolirende Theilnahme
der russischen Gesellschaft an der Verwaltung. Entschließt Alexander II. sich
zu einem solchen Zugeständniß, und versteht er es, die westlichen Länder (sollten
diese, fragen wir, so große Bedeutung haben?) durch kluge Schonung ihrer
Eigenthümlichkeiten in das Interesse der Dynastie zu ziehen, so kann man
hoffen, daß diese das Heft in den Händen behalten werde. Nimmt dagegen
die innere Auflösung des alten Rußland ihren Fortgang, bleibt das System
der russischen Gesetzgebung und Verwaltung ein von bloßen Zufälligkeiten be¬
herrschtes, fährt man fort, einander ausschließende Maximen vor denselben
Wagen zu spannen, so erscheint ein gewaltsamer Zusammenbruch der alten
Ordnung unvermeidlich. Daß die Masse des Volkes von den die gebildeten
Klassen beherrschenden Strömungen unberührt geblieben ist, kann nur da be¬
ruhigen, wo man nicht weiß, daß die Bestimmbarkeit dieser Masse eine fast
unbeschränkte, daß ihre materielle Lage eine nichts weniger als befriedigende
ist, und daß innerhalb der beiden Stände, welche die Beziehungen zwischen
Regierung und Regierten vermitteln, innerhalb des Beamtenthums und der
Geistlichkeit, die jüngeren Elemente von revolutionären Ideen stärker infizirt
sind als in allen übrigen Ständen. Die Sphäre, welche die Regierung um-


Stellung dauernd behaupten können." „Große Hoffnungen werden sich an
seinen Abgang freilich nicht knüpfen lassen, nachdem andere Erfahrungen gezeigt
haben, daß unter den gegebenen Verhältnissen die alte Methode der Auswahl
von Ministern die allein mögliche ist."

Viel Aussicht, Tolstoys Nachfolger zu werden, soll der ehemalige Zivil¬
gouverneur von Moskau, Graf Andreas Lieren, haben, ein kaum vierzig¬
jähriger Mann, der dem Unterrichtswesen ganz fern steht und wegen der bei¬
spiellos raschen Karriere, die er gemacht hat, für höchst bestimmbar gilt.
„Keinem Zweige der russischen Verwaltung thut aber die Einsetzung eines von
den Velleitäten des Tages unabhängigen, nach festen Grundsätzen regierenden
Chefs so dringend noth wie dem Unterrichtswesen, das seit zwanzig Jahren
xgr «xosUsucs das Experimentirfeld werdender Staatsmänner gewesen ist. Die
sprichwörtlich gewordene Autoritätslosigkeit unsrer meisterlosen Jugend ist die
direkte Folge davon, daß nahezu jeder der letzten Unterrichtsminister das Gegen¬
theil von dem gethan hat, was unter seinem Vorgänger an der Tagesordnung
war, und daß alle diese Herren nicht die Wohlfahrt der Jugend, sondern die
Zufriedenstellung der jeweiligen offiziellen oder populären Machthaber für ihre
Hauptaufgabe ansahen."

Der Verfasser schließt mit einer Prophezeiung, deren unbedingte Richtigkeit sich
bestreiten lassen wird, die uns aber im ganzen das Rechte zu treffen scheint. Er
sagt: „Was bis jetzt verlangt wird, beschränkt sich auf kontrolirende Theilnahme
der russischen Gesellschaft an der Verwaltung. Entschließt Alexander II. sich
zu einem solchen Zugeständniß, und versteht er es, die westlichen Länder (sollten
diese, fragen wir, so große Bedeutung haben?) durch kluge Schonung ihrer
Eigenthümlichkeiten in das Interesse der Dynastie zu ziehen, so kann man
hoffen, daß diese das Heft in den Händen behalten werde. Nimmt dagegen
die innere Auflösung des alten Rußland ihren Fortgang, bleibt das System
der russischen Gesetzgebung und Verwaltung ein von bloßen Zufälligkeiten be¬
herrschtes, fährt man fort, einander ausschließende Maximen vor denselben
Wagen zu spannen, so erscheint ein gewaltsamer Zusammenbruch der alten
Ordnung unvermeidlich. Daß die Masse des Volkes von den die gebildeten
Klassen beherrschenden Strömungen unberührt geblieben ist, kann nur da be¬
ruhigen, wo man nicht weiß, daß die Bestimmbarkeit dieser Masse eine fast
unbeschränkte, daß ihre materielle Lage eine nichts weniger als befriedigende
ist, und daß innerhalb der beiden Stände, welche die Beziehungen zwischen
Regierung und Regierten vermitteln, innerhalb des Beamtenthums und der
Geistlichkeit, die jüngeren Elemente von revolutionären Ideen stärker infizirt
sind als in allen übrigen Ständen. Die Sphäre, welche die Regierung um-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0313" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143368"/>
          <p xml:id="ID_934" prev="#ID_933"> Stellung dauernd behaupten können." &#x201E;Große Hoffnungen werden sich an<lb/>
seinen Abgang freilich nicht knüpfen lassen, nachdem andere Erfahrungen gezeigt<lb/>
haben, daß unter den gegebenen Verhältnissen die alte Methode der Auswahl<lb/>
von Ministern die allein mögliche ist."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_935"> Viel Aussicht, Tolstoys Nachfolger zu werden, soll der ehemalige Zivil¬<lb/>
gouverneur von Moskau, Graf Andreas Lieren, haben, ein kaum vierzig¬<lb/>
jähriger Mann, der dem Unterrichtswesen ganz fern steht und wegen der bei¬<lb/>
spiellos raschen Karriere, die er gemacht hat, für höchst bestimmbar gilt.<lb/>
&#x201E;Keinem Zweige der russischen Verwaltung thut aber die Einsetzung eines von<lb/>
den Velleitäten des Tages unabhängigen, nach festen Grundsätzen regierenden<lb/>
Chefs so dringend noth wie dem Unterrichtswesen, das seit zwanzig Jahren<lb/>
xgr «xosUsucs das Experimentirfeld werdender Staatsmänner gewesen ist. Die<lb/>
sprichwörtlich gewordene Autoritätslosigkeit unsrer meisterlosen Jugend ist die<lb/>
direkte Folge davon, daß nahezu jeder der letzten Unterrichtsminister das Gegen¬<lb/>
theil von dem gethan hat, was unter seinem Vorgänger an der Tagesordnung<lb/>
war, und daß alle diese Herren nicht die Wohlfahrt der Jugend, sondern die<lb/>
Zufriedenstellung der jeweiligen offiziellen oder populären Machthaber für ihre<lb/>
Hauptaufgabe ansahen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_936" next="#ID_937"> Der Verfasser schließt mit einer Prophezeiung, deren unbedingte Richtigkeit sich<lb/>
bestreiten lassen wird, die uns aber im ganzen das Rechte zu treffen scheint. Er<lb/>
sagt: &#x201E;Was bis jetzt verlangt wird, beschränkt sich auf kontrolirende Theilnahme<lb/>
der russischen Gesellschaft an der Verwaltung. Entschließt Alexander II. sich<lb/>
zu einem solchen Zugeständniß, und versteht er es, die westlichen Länder (sollten<lb/>
diese, fragen wir, so große Bedeutung haben?) durch kluge Schonung ihrer<lb/>
Eigenthümlichkeiten in das Interesse der Dynastie zu ziehen, so kann man<lb/>
hoffen, daß diese das Heft in den Händen behalten werde. Nimmt dagegen<lb/>
die innere Auflösung des alten Rußland ihren Fortgang, bleibt das System<lb/>
der russischen Gesetzgebung und Verwaltung ein von bloßen Zufälligkeiten be¬<lb/>
herrschtes, fährt man fort, einander ausschließende Maximen vor denselben<lb/>
Wagen zu spannen, so erscheint ein gewaltsamer Zusammenbruch der alten<lb/>
Ordnung unvermeidlich. Daß die Masse des Volkes von den die gebildeten<lb/>
Klassen beherrschenden Strömungen unberührt geblieben ist, kann nur da be¬<lb/>
ruhigen, wo man nicht weiß, daß die Bestimmbarkeit dieser Masse eine fast<lb/>
unbeschränkte, daß ihre materielle Lage eine nichts weniger als befriedigende<lb/>
ist, und daß innerhalb der beiden Stände, welche die Beziehungen zwischen<lb/>
Regierung und Regierten vermitteln, innerhalb des Beamtenthums und der<lb/>
Geistlichkeit, die jüngeren Elemente von revolutionären Ideen stärker infizirt<lb/>
sind als in allen übrigen Ständen. Die Sphäre, welche die Regierung um-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0313] Stellung dauernd behaupten können." „Große Hoffnungen werden sich an seinen Abgang freilich nicht knüpfen lassen, nachdem andere Erfahrungen gezeigt haben, daß unter den gegebenen Verhältnissen die alte Methode der Auswahl von Ministern die allein mögliche ist." Viel Aussicht, Tolstoys Nachfolger zu werden, soll der ehemalige Zivil¬ gouverneur von Moskau, Graf Andreas Lieren, haben, ein kaum vierzig¬ jähriger Mann, der dem Unterrichtswesen ganz fern steht und wegen der bei¬ spiellos raschen Karriere, die er gemacht hat, für höchst bestimmbar gilt. „Keinem Zweige der russischen Verwaltung thut aber die Einsetzung eines von den Velleitäten des Tages unabhängigen, nach festen Grundsätzen regierenden Chefs so dringend noth wie dem Unterrichtswesen, das seit zwanzig Jahren xgr «xosUsucs das Experimentirfeld werdender Staatsmänner gewesen ist. Die sprichwörtlich gewordene Autoritätslosigkeit unsrer meisterlosen Jugend ist die direkte Folge davon, daß nahezu jeder der letzten Unterrichtsminister das Gegen¬ theil von dem gethan hat, was unter seinem Vorgänger an der Tagesordnung war, und daß alle diese Herren nicht die Wohlfahrt der Jugend, sondern die Zufriedenstellung der jeweiligen offiziellen oder populären Machthaber für ihre Hauptaufgabe ansahen." Der Verfasser schließt mit einer Prophezeiung, deren unbedingte Richtigkeit sich bestreiten lassen wird, die uns aber im ganzen das Rechte zu treffen scheint. Er sagt: „Was bis jetzt verlangt wird, beschränkt sich auf kontrolirende Theilnahme der russischen Gesellschaft an der Verwaltung. Entschließt Alexander II. sich zu einem solchen Zugeständniß, und versteht er es, die westlichen Länder (sollten diese, fragen wir, so große Bedeutung haben?) durch kluge Schonung ihrer Eigenthümlichkeiten in das Interesse der Dynastie zu ziehen, so kann man hoffen, daß diese das Heft in den Händen behalten werde. Nimmt dagegen die innere Auflösung des alten Rußland ihren Fortgang, bleibt das System der russischen Gesetzgebung und Verwaltung ein von bloßen Zufälligkeiten be¬ herrschtes, fährt man fort, einander ausschließende Maximen vor denselben Wagen zu spannen, so erscheint ein gewaltsamer Zusammenbruch der alten Ordnung unvermeidlich. Daß die Masse des Volkes von den die gebildeten Klassen beherrschenden Strömungen unberührt geblieben ist, kann nur da be¬ ruhigen, wo man nicht weiß, daß die Bestimmbarkeit dieser Masse eine fast unbeschränkte, daß ihre materielle Lage eine nichts weniger als befriedigende ist, und daß innerhalb der beiden Stände, welche die Beziehungen zwischen Regierung und Regierten vermitteln, innerhalb des Beamtenthums und der Geistlichkeit, die jüngeren Elemente von revolutionären Ideen stärker infizirt sind als in allen übrigen Ständen. Die Sphäre, welche die Regierung um-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/313
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/313>, abgerufen am 23.07.2024.