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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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zu ihr zählenden Minister sicher dazu nicht gezwungen werden wird. Die
Gelegenheit hierzu hatte er schon früher als Chef der Reichskontrole (des russi¬
schen Oberrechnungshofes) gehabt, er war aber über Anfänge und gute Ab¬
sichten nicht hinausgekommen. Kein Wunder, daß er auch als Minister nichts
Besseres zu thun wußte, als auf dem alten, bequemen Wege weiterzugehen und
zu einer neuen "orientalischen Anleihe" seine Zuflucht zu nehmen. Dieselbe
hatte einen unerwartet günstigen Erfolg, und so befestigte sich Herrn Greighs
Stellung bis auf weiteres. Von Vertrauen auf die Zukunft ist trotzdem nicht
die Rede und kann nicht die Rede sein, so lange die Finanzverwaltung ein
Geheimniß bleibt, das nur periodisch und dann immer, nur zum Theil ent¬
hüllt wird, und so lange jede Spur einer Kontrole über die Einhaltung der
Budgetvoranschläge mangelt. Eine wirkliche Besserung der wirthschaftlichen
Zustände Rußlands ist mit dem gegenwärtigen Regierungssysteme unvereinbar.
Auch wo man Herrn Greighs löbliche Absichten anerkennt, ist man überzeugt,
daß der Fortbestand einer in ihrem Gebahren unkontrolirten, von den Ein¬
flüssen und Ansprüchen des Hofes und der hohen Bureaukratie abhängigen
und in den Geleisen der Routine wandelnden Finanzverwaltung zum Banke¬
rott führen muß.

Bald nach v. Reuterns Rücktritt verlautete, auch General Timascheff,
der Minister des Innern, sei des Regierens müde und gedenke sein 1868 von
Herrn Walujeff übernommenes Portefeuille einem Nachfolger zu überlassen.
Herr Timascheff war ein "Mann von Geist", ein talentvoller Conpletdichter
und geschickter Karikaturenzeichner und bei der Nationalpartei sehr beliebt.
Erst Offizier in einem Gardereiter-Regiments, dann Militärattache der Bot¬
schaft in Paris gewesen, war er von der Diplomatie zur Gensdarmerie und
aus dieser ins Ministerium des Innern übergetreten und hatte zuletzt das
Postdepartement geleitet. Zum Nachfolger Walujeffs hatte ihn seine Beliebt¬
heit in der höheren Gesellschaft und die Gunst der nationalen gemacht, die
von ihm ein entschiedenes Vorgehen gegen die baltischen Provinzen hoffte. In
der That hob er hier 1376 das Generalgouvernement Liv-, Est- und Kurland
auf und oktroyirte den Städten 1878 die russische Städteordnung. Sonst war
seine Verwaltung dadurch merkwürdig, daß sie die Wirksamkeit der 1863 ein¬
gerichteten Landschaftsverbände durch stete Bevormundungsversuche lahmlegte
und diskreditirte, und daß sie die Presse durch unablässige Hudelei in das
radikale Lager drängte. Mit dem Zustande der Polizei ging es unter Tima¬
scheff beständig zurück, so daß zuletzt nur in den Residenzstädten der Schein
einer gewissen Ordnung aufrecht erhalten blieb und sogar die nationalen
Freunde des Ministers die Thatsache einer unaufhaltsam zunehmenden Ver¬
wirrung und inneren Auflösung nicht mehr in Abrede stellen konnten. Die


zu ihr zählenden Minister sicher dazu nicht gezwungen werden wird. Die
Gelegenheit hierzu hatte er schon früher als Chef der Reichskontrole (des russi¬
schen Oberrechnungshofes) gehabt, er war aber über Anfänge und gute Ab¬
sichten nicht hinausgekommen. Kein Wunder, daß er auch als Minister nichts
Besseres zu thun wußte, als auf dem alten, bequemen Wege weiterzugehen und
zu einer neuen „orientalischen Anleihe" seine Zuflucht zu nehmen. Dieselbe
hatte einen unerwartet günstigen Erfolg, und so befestigte sich Herrn Greighs
Stellung bis auf weiteres. Von Vertrauen auf die Zukunft ist trotzdem nicht
die Rede und kann nicht die Rede sein, so lange die Finanzverwaltung ein
Geheimniß bleibt, das nur periodisch und dann immer, nur zum Theil ent¬
hüllt wird, und so lange jede Spur einer Kontrole über die Einhaltung der
Budgetvoranschläge mangelt. Eine wirkliche Besserung der wirthschaftlichen
Zustände Rußlands ist mit dem gegenwärtigen Regierungssysteme unvereinbar.
Auch wo man Herrn Greighs löbliche Absichten anerkennt, ist man überzeugt,
daß der Fortbestand einer in ihrem Gebahren unkontrolirten, von den Ein¬
flüssen und Ansprüchen des Hofes und der hohen Bureaukratie abhängigen
und in den Geleisen der Routine wandelnden Finanzverwaltung zum Banke¬
rott führen muß.

Bald nach v. Reuterns Rücktritt verlautete, auch General Timascheff,
der Minister des Innern, sei des Regierens müde und gedenke sein 1868 von
Herrn Walujeff übernommenes Portefeuille einem Nachfolger zu überlassen.
Herr Timascheff war ein „Mann von Geist", ein talentvoller Conpletdichter
und geschickter Karikaturenzeichner und bei der Nationalpartei sehr beliebt.
Erst Offizier in einem Gardereiter-Regiments, dann Militärattache der Bot¬
schaft in Paris gewesen, war er von der Diplomatie zur Gensdarmerie und
aus dieser ins Ministerium des Innern übergetreten und hatte zuletzt das
Postdepartement geleitet. Zum Nachfolger Walujeffs hatte ihn seine Beliebt¬
heit in der höheren Gesellschaft und die Gunst der nationalen gemacht, die
von ihm ein entschiedenes Vorgehen gegen die baltischen Provinzen hoffte. In
der That hob er hier 1376 das Generalgouvernement Liv-, Est- und Kurland
auf und oktroyirte den Städten 1878 die russische Städteordnung. Sonst war
seine Verwaltung dadurch merkwürdig, daß sie die Wirksamkeit der 1863 ein¬
gerichteten Landschaftsverbände durch stete Bevormundungsversuche lahmlegte
und diskreditirte, und daß sie die Presse durch unablässige Hudelei in das
radikale Lager drängte. Mit dem Zustande der Polizei ging es unter Tima¬
scheff beständig zurück, so daß zuletzt nur in den Residenzstädten der Schein
einer gewissen Ordnung aufrecht erhalten blieb und sogar die nationalen
Freunde des Ministers die Thatsache einer unaufhaltsam zunehmenden Ver¬
wirrung und inneren Auflösung nicht mehr in Abrede stellen konnten. Die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/310>, abgerufen am 23.07.2024.