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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Der Zar wird nicht nachgeben, er kann es nicht, sagten die panslawistischen
Fanatiker und ihr Anhang. Er ist die Verkörperung der russischen Volksseele,
und diese hat ihr letztes Wort längst gesprochen. Einerlei, ob der Finanz¬
minister die Kosten für einen zweiten großen Krieg nicht aufbringen zu können
erklärte, ob Herr Miljntin, der "echt nationale Kriegsminister", der Mann nach
dem Herzen Katkoffs und Aksakoffs, die Verantwortung für den militärischen
Erfolg nicht übernehmen wollte, ob es in allen Fugen des Staatsorganismus
unheimlich krachte, ob der Ausgang des Prozesses der Sassulitsch und die
Moskaner Studentenkrawalle deutlich bekundeten, daß die Revolutionsgefahr
auch durch die neuesten Triumphe nicht beschworen worden. Die Ehre des
russischen Namens war in S. Stefano verpfändet, die in den Hafen eines
europäischen Einvernehmens führenden Schiffe waren dort verbrannt worden.
Wer wollte es wagen, mit Beschickung des vorgeschlagenen Kongresses gegen den
einstimmigen Willen der Nation den Rückzug anzutreten? Niemand. Auch
Fürst Gortschakoff, der Nestor der russischen Diplomatie, der das Gras wachsen
hörte, hatte dazu das graue Haupt geschüttelt.

Und doch gab es einen, der, unbekümmert um die Stimme des Volkes,
die Gottes Stimme sein sollte, und ohne Rücksicht auf das "liberale Zeitbewußt¬
sein", gegen die allgemeine Strömung, der politischen Vernunft das Wort reden
konnte und wollte: Peter Andrejewitsch Schuwaloff. Aber dieser gefährliche
Mann weilte als Botschafter in London, er war nicht beliebt bei den Brüdern
und Söhnen des Kaisers, er war diesem selbst vor Jahren unbequem geworden,
er hatte zahlreiche Feinde sowohl in den regierenden Klassen als auch in den
liberalen und nationalen Kreisen, der Reichskanzler betrachtete ihn seit geraumer
Zeit mit Mißtrauen -- kurz, er war durch seine Antecedentien wie durch seine
Friedensliebe "unmöglich". Indeß das Unmögliche geschah. Er kam, vom
Kaiser berufen, nach Petersburg, er kam über Friedrichsruhe, also mit der
Billigung seiner Vorschläge durch die erste diplomatische Autorität Europas,
und das Weitere ist bekannt: der Kongreß wurde beschickt, neben Gortschakoff
mit diesem selben Schuwaloff, und die Revision des Friedens von S. Stefano
erfolgte nach den Forderungen der Interessen Europas. Bis zuletzt hatten die
nationalen gehofft oder mit versteckter Anklage und Drohung so gethan, als
ob sie hofften, der Kaiser werde nicht nachgeben, und behauptet, es sei unmöglich,
daß er an der Ehre Rußlands, an seiner Ueberlieferung, am Willen seines
Volkes sich versündige. Ganz ungeheuer war in Folge dessen der Sturm
moralischer Entrüstung, als der am 13. Juli 1878 unterzeichnete Vertrag bewies,
daß er dennoch nachgegeben hatte. Die gutgläubige große Masse fiel wirklich
aus den Wolken, ihre Führer redeten, als handle es sich um ein völlig grund¬
loses Zurückweichen, als habe nie ein Mißverhältniß zwischen dem Vertrage


Der Zar wird nicht nachgeben, er kann es nicht, sagten die panslawistischen
Fanatiker und ihr Anhang. Er ist die Verkörperung der russischen Volksseele,
und diese hat ihr letztes Wort längst gesprochen. Einerlei, ob der Finanz¬
minister die Kosten für einen zweiten großen Krieg nicht aufbringen zu können
erklärte, ob Herr Miljntin, der „echt nationale Kriegsminister", der Mann nach
dem Herzen Katkoffs und Aksakoffs, die Verantwortung für den militärischen
Erfolg nicht übernehmen wollte, ob es in allen Fugen des Staatsorganismus
unheimlich krachte, ob der Ausgang des Prozesses der Sassulitsch und die
Moskaner Studentenkrawalle deutlich bekundeten, daß die Revolutionsgefahr
auch durch die neuesten Triumphe nicht beschworen worden. Die Ehre des
russischen Namens war in S. Stefano verpfändet, die in den Hafen eines
europäischen Einvernehmens führenden Schiffe waren dort verbrannt worden.
Wer wollte es wagen, mit Beschickung des vorgeschlagenen Kongresses gegen den
einstimmigen Willen der Nation den Rückzug anzutreten? Niemand. Auch
Fürst Gortschakoff, der Nestor der russischen Diplomatie, der das Gras wachsen
hörte, hatte dazu das graue Haupt geschüttelt.

Und doch gab es einen, der, unbekümmert um die Stimme des Volkes,
die Gottes Stimme sein sollte, und ohne Rücksicht auf das „liberale Zeitbewußt¬
sein", gegen die allgemeine Strömung, der politischen Vernunft das Wort reden
konnte und wollte: Peter Andrejewitsch Schuwaloff. Aber dieser gefährliche
Mann weilte als Botschafter in London, er war nicht beliebt bei den Brüdern
und Söhnen des Kaisers, er war diesem selbst vor Jahren unbequem geworden,
er hatte zahlreiche Feinde sowohl in den regierenden Klassen als auch in den
liberalen und nationalen Kreisen, der Reichskanzler betrachtete ihn seit geraumer
Zeit mit Mißtrauen — kurz, er war durch seine Antecedentien wie durch seine
Friedensliebe „unmöglich". Indeß das Unmögliche geschah. Er kam, vom
Kaiser berufen, nach Petersburg, er kam über Friedrichsruhe, also mit der
Billigung seiner Vorschläge durch die erste diplomatische Autorität Europas,
und das Weitere ist bekannt: der Kongreß wurde beschickt, neben Gortschakoff
mit diesem selben Schuwaloff, und die Revision des Friedens von S. Stefano
erfolgte nach den Forderungen der Interessen Europas. Bis zuletzt hatten die
nationalen gehofft oder mit versteckter Anklage und Drohung so gethan, als
ob sie hofften, der Kaiser werde nicht nachgeben, und behauptet, es sei unmöglich,
daß er an der Ehre Rußlands, an seiner Ueberlieferung, am Willen seines
Volkes sich versündige. Ganz ungeheuer war in Folge dessen der Sturm
moralischer Entrüstung, als der am 13. Juli 1878 unterzeichnete Vertrag bewies,
daß er dennoch nachgegeben hatte. Die gutgläubige große Masse fiel wirklich
aus den Wolken, ihre Führer redeten, als handle es sich um ein völlig grund¬
loses Zurückweichen, als habe nie ein Mißverhältniß zwischen dem Vertrage


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[0307] Der Zar wird nicht nachgeben, er kann es nicht, sagten die panslawistischen Fanatiker und ihr Anhang. Er ist die Verkörperung der russischen Volksseele, und diese hat ihr letztes Wort längst gesprochen. Einerlei, ob der Finanz¬ minister die Kosten für einen zweiten großen Krieg nicht aufbringen zu können erklärte, ob Herr Miljntin, der „echt nationale Kriegsminister", der Mann nach dem Herzen Katkoffs und Aksakoffs, die Verantwortung für den militärischen Erfolg nicht übernehmen wollte, ob es in allen Fugen des Staatsorganismus unheimlich krachte, ob der Ausgang des Prozesses der Sassulitsch und die Moskaner Studentenkrawalle deutlich bekundeten, daß die Revolutionsgefahr auch durch die neuesten Triumphe nicht beschworen worden. Die Ehre des russischen Namens war in S. Stefano verpfändet, die in den Hafen eines europäischen Einvernehmens führenden Schiffe waren dort verbrannt worden. Wer wollte es wagen, mit Beschickung des vorgeschlagenen Kongresses gegen den einstimmigen Willen der Nation den Rückzug anzutreten? Niemand. Auch Fürst Gortschakoff, der Nestor der russischen Diplomatie, der das Gras wachsen hörte, hatte dazu das graue Haupt geschüttelt. Und doch gab es einen, der, unbekümmert um die Stimme des Volkes, die Gottes Stimme sein sollte, und ohne Rücksicht auf das „liberale Zeitbewußt¬ sein", gegen die allgemeine Strömung, der politischen Vernunft das Wort reden konnte und wollte: Peter Andrejewitsch Schuwaloff. Aber dieser gefährliche Mann weilte als Botschafter in London, er war nicht beliebt bei den Brüdern und Söhnen des Kaisers, er war diesem selbst vor Jahren unbequem geworden, er hatte zahlreiche Feinde sowohl in den regierenden Klassen als auch in den liberalen und nationalen Kreisen, der Reichskanzler betrachtete ihn seit geraumer Zeit mit Mißtrauen — kurz, er war durch seine Antecedentien wie durch seine Friedensliebe „unmöglich". Indeß das Unmögliche geschah. Er kam, vom Kaiser berufen, nach Petersburg, er kam über Friedrichsruhe, also mit der Billigung seiner Vorschläge durch die erste diplomatische Autorität Europas, und das Weitere ist bekannt: der Kongreß wurde beschickt, neben Gortschakoff mit diesem selben Schuwaloff, und die Revision des Friedens von S. Stefano erfolgte nach den Forderungen der Interessen Europas. Bis zuletzt hatten die nationalen gehofft oder mit versteckter Anklage und Drohung so gethan, als ob sie hofften, der Kaiser werde nicht nachgeben, und behauptet, es sei unmöglich, daß er an der Ehre Rußlands, an seiner Ueberlieferung, am Willen seines Volkes sich versündige. Ganz ungeheuer war in Folge dessen der Sturm moralischer Entrüstung, als der am 13. Juli 1878 unterzeichnete Vertrag bewies, daß er dennoch nachgegeben hatte. Die gutgläubige große Masse fiel wirklich aus den Wolken, ihre Führer redeten, als handle es sich um ein völlig grund¬ loses Zurückweichen, als habe nie ein Mißverhältniß zwischen dem Vertrage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/307>, abgerufen am 23.07.2024.