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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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gebend gewesen, so hätte man in Adrianopel Halt gemacht und Frieden geschlossen.
Daran war aber nicht mehr zu denken. Die plötzlich eingetretenen und sich
fortwährend steigernden großen Erfolge des Heeres hatten alle Schichten der
Bevölkerung, alle Parteien mit dem leidenschaftlichen Wunsche nach rücksichts¬
loser Ausbeutung der Gunst des Geschickes erfüllt. Nicht nur Jgnatieff und
Gortschakoff, sondern auch der Thronfolger und der Großfürst Nikolaus be¬
schworen den Monarchen, der auf eine tausendjährige Tradition gestützten
Volksstimme zu gehorchen und die Gelegenheit zur Befriedigung des heißen
Wunsches der Slawenwelt zu ergreifen. Auch die Stimmung der Armee ließ
ein Einhalten auf der Siegesbahn nach Zargrad bedenklich erscheinen. Kurz,
der Kaiser mußte zulassen, daß Jgnatieff und Nelidoff mit den Verhandlungen
über den Frieden betraut wurden, daß man die Verhandlungen selbst mit einem
die befreundeten Mächte beleidigenden Geheimniß umgab, und daß die Nation
in den Wahn gewiegt wurde, über die Zukunft Konstantinopels und des Orients
sei bereits das letzte Wort gesprochen.

Den Ausdruck dieser kurzsichtigen Politik bildete der Friedensschluß zu
S. Stefano. Die vornehmste Wirkung desselben auf die russische Gesellschaft
bestand in Bestärkung der letzteren in der Ueberschätzung ihrer Kräfte und ihrer
Leistungsfähigkeit. Eine andere Folge war, daß die Regierung vor die Wahl
gestellt wurde, einen Kampf mit England und andern Mächten auf Tod und
Leben zu wagen, oder den Rest ihres Ansehens im Innern in Frage zu stellen,
eine dritte, daß die wirklichen Ergebnisse des Feldzugs in den Augen der Nation
zusammenschrumpften. Drei Viertheile der Presse versicherten, und das Publi¬
kum sprach es nach, daß die Bedingungen, die man der Pforte in S. Stefano
auferlegt, unerhört mäßige seien. Daß ein Abzug von ihnen undenkbar, galt
allen Parteien für selbstverständlich. Fraglich sollte nur sein, ob man sich mit
ihnen begnügen dürfe und nicht wenigstens eine zeitweilige Besetzung Konstan-
tinopels fordern müsse.

So konnten harte Enttäuschungen nicht ausbleiben. Die erste war das
Erscheinen der englischen Flotte am Bosporus und die Kunde von dem Ein¬
drucke, den dieses Ereigniß auf das Hauptquartier des Großfürsten Nikolaus
ausgeübt hatte. Die russische Armee blieb vor der heiligen Stadt des Ostens,
dem Jerusalem der slawisch-orthodoxen Welt, wie eingewurzelt stehen. Die
Regierung fürchtete das Einschreiten des "faulen Westens" mehr als die Ver¬
letzung des russischen Volksgeistes und der Traditionen der Väter. Die zweite
Enttäuschung lag in der Einstimmigkeit, mit welcher alle nichtrussischen Gro߬
mächte die Forderung erhoben, daß der Vertrag von S. Stefano einem Kon¬
gresse zur Prüfung vorgelegt und die orientalische Frage als Angelegenheit
Europas behandelt werde.


gebend gewesen, so hätte man in Adrianopel Halt gemacht und Frieden geschlossen.
Daran war aber nicht mehr zu denken. Die plötzlich eingetretenen und sich
fortwährend steigernden großen Erfolge des Heeres hatten alle Schichten der
Bevölkerung, alle Parteien mit dem leidenschaftlichen Wunsche nach rücksichts¬
loser Ausbeutung der Gunst des Geschickes erfüllt. Nicht nur Jgnatieff und
Gortschakoff, sondern auch der Thronfolger und der Großfürst Nikolaus be¬
schworen den Monarchen, der auf eine tausendjährige Tradition gestützten
Volksstimme zu gehorchen und die Gelegenheit zur Befriedigung des heißen
Wunsches der Slawenwelt zu ergreifen. Auch die Stimmung der Armee ließ
ein Einhalten auf der Siegesbahn nach Zargrad bedenklich erscheinen. Kurz,
der Kaiser mußte zulassen, daß Jgnatieff und Nelidoff mit den Verhandlungen
über den Frieden betraut wurden, daß man die Verhandlungen selbst mit einem
die befreundeten Mächte beleidigenden Geheimniß umgab, und daß die Nation
in den Wahn gewiegt wurde, über die Zukunft Konstantinopels und des Orients
sei bereits das letzte Wort gesprochen.

Den Ausdruck dieser kurzsichtigen Politik bildete der Friedensschluß zu
S. Stefano. Die vornehmste Wirkung desselben auf die russische Gesellschaft
bestand in Bestärkung der letzteren in der Ueberschätzung ihrer Kräfte und ihrer
Leistungsfähigkeit. Eine andere Folge war, daß die Regierung vor die Wahl
gestellt wurde, einen Kampf mit England und andern Mächten auf Tod und
Leben zu wagen, oder den Rest ihres Ansehens im Innern in Frage zu stellen,
eine dritte, daß die wirklichen Ergebnisse des Feldzugs in den Augen der Nation
zusammenschrumpften. Drei Viertheile der Presse versicherten, und das Publi¬
kum sprach es nach, daß die Bedingungen, die man der Pforte in S. Stefano
auferlegt, unerhört mäßige seien. Daß ein Abzug von ihnen undenkbar, galt
allen Parteien für selbstverständlich. Fraglich sollte nur sein, ob man sich mit
ihnen begnügen dürfe und nicht wenigstens eine zeitweilige Besetzung Konstan-
tinopels fordern müsse.

So konnten harte Enttäuschungen nicht ausbleiben. Die erste war das
Erscheinen der englischen Flotte am Bosporus und die Kunde von dem Ein¬
drucke, den dieses Ereigniß auf das Hauptquartier des Großfürsten Nikolaus
ausgeübt hatte. Die russische Armee blieb vor der heiligen Stadt des Ostens,
dem Jerusalem der slawisch-orthodoxen Welt, wie eingewurzelt stehen. Die
Regierung fürchtete das Einschreiten des „faulen Westens" mehr als die Ver¬
letzung des russischen Volksgeistes und der Traditionen der Väter. Die zweite
Enttäuschung lag in der Einstimmigkeit, mit welcher alle nichtrussischen Gro߬
mächte die Forderung erhoben, daß der Vertrag von S. Stefano einem Kon¬
gresse zur Prüfung vorgelegt und die orientalische Frage als Angelegenheit
Europas behandelt werde.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/306>, abgerufen am 23.07.2024.