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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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gefahr folgendermaßen. Nachdem Polen und Deutsche beseitigt und durch
Aufhebung der Leibeigenschaft die elementaren Mächte des russischen Volksthums
entfesselt sind, müssen alle Ueberbleibsel des alten, auf fremde Einflüsse gegrün¬
deten Systems weggeschafft und für die erwachte Nationalkraft der nöthige
Spielraum geschaffen werden. Freiheit und nationale Einheit sind nur ver¬
schiedene Erscheinungsformen für ein und dasselbe Ding. Einen neuen Inhalt
hat das russische Leben bereits erhalten, neue Form aber kann es erst gewin¬
nen, wenn es sich zum Leben des gesammten slawischen Stammes erweitert und
so die Macht gewinnt, die in seine Grenzen eingedrungenen romanischen und
germanischen Elemente zu ersticken und an diesen Grenzen ein festes Bollwerk
gegen den deutschen, seit 1866 und 1870 gefährlicher gewordenen "Drang nach
Osten" aufzurichten. Hat die Regierung die ihr vom emanzipirten russischen
Volke auferlegten reformatorischen Pflichten gewissenhaft erfüllt, so werden die
russischen Waffen siegen, auch wenn eine europäische Allianz die Pforte unter¬
stützt. Zeigt sich dagegen die vorhandene Regierungsmaschine jener Aufgabe
nicht gewachsen, so ist es die höchste Zeit, die staatliche Organisation von
Grund aus zu verbessern und ihre Handhabung fähigeren Händen anzuver¬
trauen. Die Zeit des Harrens und Vertröstens ist vorbei, das außerrussische
Slawenthum hat uns zur Erfüllung unsrer historischen Mission aufgerufen,
und wir müssen beweisen, daß wir nach Bewältigung unserer inneren Feinde
auch die äußeren über den Haufen zu rennen gelernt haben. Die Aufhebung
der Leibeigenschaft, die Vernichtung des Polenthums und die Beseitigung der
deutschen Einflüsse haben blos als vorbereitende Maßregeln Sinn und Be¬
deutung gehabt; jetzt ist der Augenblick gekommen, ihre Früchte zu ernten und
unter Dach zu bringen.

Darnach handelte man in den Kreisen der nationalen. Der Krieg mit
den Türken sollte den Schlußstein in das reformatorische Gebäude Kaiser Ale¬
xanders einfügen und zugleich der Beginn eines neuen, angeblich inhaltreicheren
Abschnitts der russisch-slawischen Geschichte sein. Gewölle wurde er auch von
den radikalen Schülern Herzens und Bakunins, den Sozialisten und Nihilisten.
Auch hier wurde gehofft, er werde zur Abstreifung der alten politischen Lebens¬
formen, die sich überlebt, führen. Die einen rechneten auf eine Niederlage der
russischen Waffen und eine dadurch hervorgerufene Revolution. Andere meinten
wenn der reformatorische Absolutismus sich ebenso unfähig zeige wie vordem
der despotische, so müsse ein Versuch mit dem konstitutionellen System folgen,
und bei der Unberechenbarkeit der russischen Natur und der Unbildung der
Massen würden die am weitesten vorgeschrittenen Parteien die meisten Aus¬
sichten haben. Wieder andere nahmen an, daß der Kaiser Sieger bleiben und
den Befreiungszug bis Byzanz ausdehnen werde, wo sie ihrer Sache erst recht


gefahr folgendermaßen. Nachdem Polen und Deutsche beseitigt und durch
Aufhebung der Leibeigenschaft die elementaren Mächte des russischen Volksthums
entfesselt sind, müssen alle Ueberbleibsel des alten, auf fremde Einflüsse gegrün¬
deten Systems weggeschafft und für die erwachte Nationalkraft der nöthige
Spielraum geschaffen werden. Freiheit und nationale Einheit sind nur ver¬
schiedene Erscheinungsformen für ein und dasselbe Ding. Einen neuen Inhalt
hat das russische Leben bereits erhalten, neue Form aber kann es erst gewin¬
nen, wenn es sich zum Leben des gesammten slawischen Stammes erweitert und
so die Macht gewinnt, die in seine Grenzen eingedrungenen romanischen und
germanischen Elemente zu ersticken und an diesen Grenzen ein festes Bollwerk
gegen den deutschen, seit 1866 und 1870 gefährlicher gewordenen „Drang nach
Osten" aufzurichten. Hat die Regierung die ihr vom emanzipirten russischen
Volke auferlegten reformatorischen Pflichten gewissenhaft erfüllt, so werden die
russischen Waffen siegen, auch wenn eine europäische Allianz die Pforte unter¬
stützt. Zeigt sich dagegen die vorhandene Regierungsmaschine jener Aufgabe
nicht gewachsen, so ist es die höchste Zeit, die staatliche Organisation von
Grund aus zu verbessern und ihre Handhabung fähigeren Händen anzuver¬
trauen. Die Zeit des Harrens und Vertröstens ist vorbei, das außerrussische
Slawenthum hat uns zur Erfüllung unsrer historischen Mission aufgerufen,
und wir müssen beweisen, daß wir nach Bewältigung unserer inneren Feinde
auch die äußeren über den Haufen zu rennen gelernt haben. Die Aufhebung
der Leibeigenschaft, die Vernichtung des Polenthums und die Beseitigung der
deutschen Einflüsse haben blos als vorbereitende Maßregeln Sinn und Be¬
deutung gehabt; jetzt ist der Augenblick gekommen, ihre Früchte zu ernten und
unter Dach zu bringen.

Darnach handelte man in den Kreisen der nationalen. Der Krieg mit
den Türken sollte den Schlußstein in das reformatorische Gebäude Kaiser Ale¬
xanders einfügen und zugleich der Beginn eines neuen, angeblich inhaltreicheren
Abschnitts der russisch-slawischen Geschichte sein. Gewölle wurde er auch von
den radikalen Schülern Herzens und Bakunins, den Sozialisten und Nihilisten.
Auch hier wurde gehofft, er werde zur Abstreifung der alten politischen Lebens¬
formen, die sich überlebt, führen. Die einen rechneten auf eine Niederlage der
russischen Waffen und eine dadurch hervorgerufene Revolution. Andere meinten
wenn der reformatorische Absolutismus sich ebenso unfähig zeige wie vordem
der despotische, so müsse ein Versuch mit dem konstitutionellen System folgen,
und bei der Unberechenbarkeit der russischen Natur und der Unbildung der
Massen würden die am weitesten vorgeschrittenen Parteien die meisten Aus¬
sichten haben. Wieder andere nahmen an, daß der Kaiser Sieger bleiben und
den Befreiungszug bis Byzanz ausdehnen werde, wo sie ihrer Sache erst recht


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[0303] gefahr folgendermaßen. Nachdem Polen und Deutsche beseitigt und durch Aufhebung der Leibeigenschaft die elementaren Mächte des russischen Volksthums entfesselt sind, müssen alle Ueberbleibsel des alten, auf fremde Einflüsse gegrün¬ deten Systems weggeschafft und für die erwachte Nationalkraft der nöthige Spielraum geschaffen werden. Freiheit und nationale Einheit sind nur ver¬ schiedene Erscheinungsformen für ein und dasselbe Ding. Einen neuen Inhalt hat das russische Leben bereits erhalten, neue Form aber kann es erst gewin¬ nen, wenn es sich zum Leben des gesammten slawischen Stammes erweitert und so die Macht gewinnt, die in seine Grenzen eingedrungenen romanischen und germanischen Elemente zu ersticken und an diesen Grenzen ein festes Bollwerk gegen den deutschen, seit 1866 und 1870 gefährlicher gewordenen „Drang nach Osten" aufzurichten. Hat die Regierung die ihr vom emanzipirten russischen Volke auferlegten reformatorischen Pflichten gewissenhaft erfüllt, so werden die russischen Waffen siegen, auch wenn eine europäische Allianz die Pforte unter¬ stützt. Zeigt sich dagegen die vorhandene Regierungsmaschine jener Aufgabe nicht gewachsen, so ist es die höchste Zeit, die staatliche Organisation von Grund aus zu verbessern und ihre Handhabung fähigeren Händen anzuver¬ trauen. Die Zeit des Harrens und Vertröstens ist vorbei, das außerrussische Slawenthum hat uns zur Erfüllung unsrer historischen Mission aufgerufen, und wir müssen beweisen, daß wir nach Bewältigung unserer inneren Feinde auch die äußeren über den Haufen zu rennen gelernt haben. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Vernichtung des Polenthums und die Beseitigung der deutschen Einflüsse haben blos als vorbereitende Maßregeln Sinn und Be¬ deutung gehabt; jetzt ist der Augenblick gekommen, ihre Früchte zu ernten und unter Dach zu bringen. Darnach handelte man in den Kreisen der nationalen. Der Krieg mit den Türken sollte den Schlußstein in das reformatorische Gebäude Kaiser Ale¬ xanders einfügen und zugleich der Beginn eines neuen, angeblich inhaltreicheren Abschnitts der russisch-slawischen Geschichte sein. Gewölle wurde er auch von den radikalen Schülern Herzens und Bakunins, den Sozialisten und Nihilisten. Auch hier wurde gehofft, er werde zur Abstreifung der alten politischen Lebens¬ formen, die sich überlebt, führen. Die einen rechneten auf eine Niederlage der russischen Waffen und eine dadurch hervorgerufene Revolution. Andere meinten wenn der reformatorische Absolutismus sich ebenso unfähig zeige wie vordem der despotische, so müsse ein Versuch mit dem konstitutionellen System folgen, und bei der Unberechenbarkeit der russischen Natur und der Unbildung der Massen würden die am weitesten vorgeschrittenen Parteien die meisten Aus¬ sichten haben. Wieder andere nahmen an, daß der Kaiser Sieger bleiben und den Befreiungszug bis Byzanz ausdehnen werde, wo sie ihrer Sache erst recht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/303>, abgerufen am 23.07.2024.