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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Parteien gehaßt und unaufhörlich angefeindet, trotz des Vordringens der russi¬
schen Kirche und trotz verschiedener ihnen ungünstiger Staatseinrichtungen noch
immer in sozialer Beziehung überwiegen, so daß sie in der westlichen Reichs¬
hälfte als maßgebend erscheinen. Sonst unter einander verfeindet, waren die
drei Glieder dieser vierten Gruppe in der Ueberzeugung einig, daß ein Sieg
der nationalen als mit dem Untergange der Nichtrussen im Reiche gleichbe¬
deutend anzusehen und daß die Machterweiterung jener Partei deshalb mit
allen Mitteln zu bekämpfen sei.

Der Krieg wurde von der zweiten und der dritten obiger Gruppen ge¬
macht, deren Prinzipien sich widersprachen, während ihre Kreise einander be¬
rührten, da es einerseits Nationalitätsschwärmer gibt, deren Vorstellungen vom
künftigen Nationalstaate demokratisch, ja selbst sozialistisch gefärbt sind, und
andrerseits viele Sozialisten und Nihilisten zugleich für die heilige Allianz aller
befreiten Völker und für einen von der Wolga bis zum Böhmerwalde rei¬
chenden Slawenstaat schwärmen. Die vierte Gruppe verhielt sich zu dem Kriege
meist gleichgiltig, die erste suchte ihn zu verhindern. Der Hof und das höhere
Beamtenthum, die in ihr vertreten waren, scheuten eben die Probe, auf welche
die vom jetzigen Kaiser geschaffenen Staatseinrichtungen durch einen großen
Krieg gestellt werden mußten. Sie sahen voraus, daß Sieg wie Niederlage
für das herrschende System verhängnißvoll werden könnte. Abgesehen von
einigen sehr hochstehenden Damen, die durch geistlichen Einfluß bestimmt waren,
und einzelnen kriegslustiger Militärs stemmten fast alle Leute von Rang und
Stellung sich gegen die durch den serbischen Krieg entstandene Bewegung als
eine solche, hinter welcher demagogische Unheilsstifter steckten. Der Name
Tschernajeffs wurde in diesen Kreisen nur mit Unwillen genannt. Während
des Winters von 1876 auf 1877 sprach man sich hier so abfällig über Ser¬
bien und die panslawistische Kriegspartei aus, daß letztere die Hoffnung auf
eine Verständigung mit Gortschakoff förmlich aufgab und laute Klage über den
Abfall der Regierung von Rußlands heiligsten Traditionen führte. Trotzdem
gab die Vernichtung des serbischen Heeres das Zeichen zum Erlaß jenes Ulti¬
matums, durch welches Gortschakoff zum ersten Male aus dem Rahmen der
gemeinsamen europäischen Aktion heraustrat. Scheinbar stand die dann erfol¬
gende Kriegserklärung mit den serbischen Vorgängen in keiner Beziehung, that¬
sächlich aber hatten letztere die thatenlustige Stimmung hervorgerufen, welche
den Kaiser zu jenem schwersten Entschlüsse seines Lebens nöthigte.

Die Absichten, welche die Nationalpartei bei ihrem Drängen zum Kriege
gegen die Türken verfolgte, sind in Rußland wohlbekannt. Der gewünschte
Krieg war ihr nur die logische Konsequenz des von ihr zur Zeit des Polen¬
aufstandes von 1863 proklamirten Prinzips. Ihre Führer äußerten sich un-


Parteien gehaßt und unaufhörlich angefeindet, trotz des Vordringens der russi¬
schen Kirche und trotz verschiedener ihnen ungünstiger Staatseinrichtungen noch
immer in sozialer Beziehung überwiegen, so daß sie in der westlichen Reichs¬
hälfte als maßgebend erscheinen. Sonst unter einander verfeindet, waren die
drei Glieder dieser vierten Gruppe in der Ueberzeugung einig, daß ein Sieg
der nationalen als mit dem Untergange der Nichtrussen im Reiche gleichbe¬
deutend anzusehen und daß die Machterweiterung jener Partei deshalb mit
allen Mitteln zu bekämpfen sei.

Der Krieg wurde von der zweiten und der dritten obiger Gruppen ge¬
macht, deren Prinzipien sich widersprachen, während ihre Kreise einander be¬
rührten, da es einerseits Nationalitätsschwärmer gibt, deren Vorstellungen vom
künftigen Nationalstaate demokratisch, ja selbst sozialistisch gefärbt sind, und
andrerseits viele Sozialisten und Nihilisten zugleich für die heilige Allianz aller
befreiten Völker und für einen von der Wolga bis zum Böhmerwalde rei¬
chenden Slawenstaat schwärmen. Die vierte Gruppe verhielt sich zu dem Kriege
meist gleichgiltig, die erste suchte ihn zu verhindern. Der Hof und das höhere
Beamtenthum, die in ihr vertreten waren, scheuten eben die Probe, auf welche
die vom jetzigen Kaiser geschaffenen Staatseinrichtungen durch einen großen
Krieg gestellt werden mußten. Sie sahen voraus, daß Sieg wie Niederlage
für das herrschende System verhängnißvoll werden könnte. Abgesehen von
einigen sehr hochstehenden Damen, die durch geistlichen Einfluß bestimmt waren,
und einzelnen kriegslustiger Militärs stemmten fast alle Leute von Rang und
Stellung sich gegen die durch den serbischen Krieg entstandene Bewegung als
eine solche, hinter welcher demagogische Unheilsstifter steckten. Der Name
Tschernajeffs wurde in diesen Kreisen nur mit Unwillen genannt. Während
des Winters von 1876 auf 1877 sprach man sich hier so abfällig über Ser¬
bien und die panslawistische Kriegspartei aus, daß letztere die Hoffnung auf
eine Verständigung mit Gortschakoff förmlich aufgab und laute Klage über den
Abfall der Regierung von Rußlands heiligsten Traditionen führte. Trotzdem
gab die Vernichtung des serbischen Heeres das Zeichen zum Erlaß jenes Ulti¬
matums, durch welches Gortschakoff zum ersten Male aus dem Rahmen der
gemeinsamen europäischen Aktion heraustrat. Scheinbar stand die dann erfol¬
gende Kriegserklärung mit den serbischen Vorgängen in keiner Beziehung, that¬
sächlich aber hatten letztere die thatenlustige Stimmung hervorgerufen, welche
den Kaiser zu jenem schwersten Entschlüsse seines Lebens nöthigte.

Die Absichten, welche die Nationalpartei bei ihrem Drängen zum Kriege
gegen die Türken verfolgte, sind in Rußland wohlbekannt. Der gewünschte
Krieg war ihr nur die logische Konsequenz des von ihr zur Zeit des Polen¬
aufstandes von 1863 proklamirten Prinzips. Ihre Führer äußerten sich un-


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[0302] Parteien gehaßt und unaufhörlich angefeindet, trotz des Vordringens der russi¬ schen Kirche und trotz verschiedener ihnen ungünstiger Staatseinrichtungen noch immer in sozialer Beziehung überwiegen, so daß sie in der westlichen Reichs¬ hälfte als maßgebend erscheinen. Sonst unter einander verfeindet, waren die drei Glieder dieser vierten Gruppe in der Ueberzeugung einig, daß ein Sieg der nationalen als mit dem Untergange der Nichtrussen im Reiche gleichbe¬ deutend anzusehen und daß die Machterweiterung jener Partei deshalb mit allen Mitteln zu bekämpfen sei. Der Krieg wurde von der zweiten und der dritten obiger Gruppen ge¬ macht, deren Prinzipien sich widersprachen, während ihre Kreise einander be¬ rührten, da es einerseits Nationalitätsschwärmer gibt, deren Vorstellungen vom künftigen Nationalstaate demokratisch, ja selbst sozialistisch gefärbt sind, und andrerseits viele Sozialisten und Nihilisten zugleich für die heilige Allianz aller befreiten Völker und für einen von der Wolga bis zum Böhmerwalde rei¬ chenden Slawenstaat schwärmen. Die vierte Gruppe verhielt sich zu dem Kriege meist gleichgiltig, die erste suchte ihn zu verhindern. Der Hof und das höhere Beamtenthum, die in ihr vertreten waren, scheuten eben die Probe, auf welche die vom jetzigen Kaiser geschaffenen Staatseinrichtungen durch einen großen Krieg gestellt werden mußten. Sie sahen voraus, daß Sieg wie Niederlage für das herrschende System verhängnißvoll werden könnte. Abgesehen von einigen sehr hochstehenden Damen, die durch geistlichen Einfluß bestimmt waren, und einzelnen kriegslustiger Militärs stemmten fast alle Leute von Rang und Stellung sich gegen die durch den serbischen Krieg entstandene Bewegung als eine solche, hinter welcher demagogische Unheilsstifter steckten. Der Name Tschernajeffs wurde in diesen Kreisen nur mit Unwillen genannt. Während des Winters von 1876 auf 1877 sprach man sich hier so abfällig über Ser¬ bien und die panslawistische Kriegspartei aus, daß letztere die Hoffnung auf eine Verständigung mit Gortschakoff förmlich aufgab und laute Klage über den Abfall der Regierung von Rußlands heiligsten Traditionen führte. Trotzdem gab die Vernichtung des serbischen Heeres das Zeichen zum Erlaß jenes Ulti¬ matums, durch welches Gortschakoff zum ersten Male aus dem Rahmen der gemeinsamen europäischen Aktion heraustrat. Scheinbar stand die dann erfol¬ gende Kriegserklärung mit den serbischen Vorgängen in keiner Beziehung, that¬ sächlich aber hatten letztere die thatenlustige Stimmung hervorgerufen, welche den Kaiser zu jenem schwersten Entschlüsse seines Lebens nöthigte. Die Absichten, welche die Nationalpartei bei ihrem Drängen zum Kriege gegen die Türken verfolgte, sind in Rußland wohlbekannt. Der gewünschte Krieg war ihr nur die logische Konsequenz des von ihr zur Zeit des Polen¬ aufstandes von 1863 proklamirten Prinzips. Ihre Führer äußerten sich un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/302>, abgerufen am 23.07.2024.