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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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lung. Ein kirgisischer Fuhrmann sagte es mir gestern. Bei den Quellen, sagte
er, am Hügel mit dem gespaltenen Kamm. Dort ist dieser gespaltene Kamm."

Es war sehr wahrscheinlich, ja es konnte gar nicht anders sein, als daß
die Abtheilung ganz nahe, höchstens acht Werst weit weg war. Eine solche
Strecke konnte mein Orlik in einer halben Stunde, ja, in zwanzig Minuten
zurücklegen. Wäre es nicht einen Versuch werth? So schoß es mir durch
den Kopf. "Da dürfen wir nicht länger warten, vielleicht bekommen sie noch
Verstärkung, dann könnte es uns übel gehen," sagte der erfahrene Uralbewohner.
"Auf unseren Pferden entwischen wir auch nicht, aber Sie auf dem Ihrigen
kommen vielleicht durch. Eilen Sie ins Lager, wir halten hier aus mit Gottes
Hilfe, wenn Sie uns bald Beistand bringen."

Ich konnte nicht umhin, dem Vorschlag des Kosaken beizustimmen, denn
es war der einzig denkbare Ausweg. Die Papiere mußten Morgens in den
Händen des Obersten sein -- dies war durchaus nothwendig --, und so blieb
mir keine andere Wahl, als die Kosaken zurückzulassen und meine ganze Hoff¬
nung auf Orliks Schnelligkeit zu setzen. Ich stieg ab, rückte den Sattel zurecht,
rieb meinem Pferde die Nüstern mit einem in Branntwein getränkten Tuch
und stieg wieder auf.

Die Turkomanen mußten diese Vorbereitungen verstanden haben, denn sie
geriethen in Bewegung und zogen sich auf dem Punkte zusammen, auf dem
sie meinen Ausfall erwarteten. Die Kosaken koppelten unterdessen ihre Pferde
an drei Füßen, legten sie auf den Boden, stellten sich dann mit dein Rücken
gegen einander und bereiteten sich zum Ausharren vor.

"Nun, Orlik, greif' aus!" rief ich laut. "Gott steh euch bei!" wandte ich
mich einen Augenblick zu den Kosaken zurück und ließ dem Pferde die Zügel.
Orlik machte einen Sprung wie ein wilder Bock, legte die Ohren zurück und
griff aus. Plötzlich schlug etwas an seine Kruppe, er sank ein, es schien mir,
als stolpre er aus dem Hinterfuß, aber er streckte sich und flog weiter. Die
Schüsse, die ich aus nächster Nähe auf die knochigen, unförmlichen Fratzenge¬
sichter abfeuerte, bahnten mir den Weg. Eine scharfe turkomanische Lanzenspitze
streifte mich an der Seite und zerriß mir das Hemd. "Greif aus, Orlik, greif
aus!" flüsterte ich meinem Renner ins Ohr. Da ich das Geheul der Ver¬
folger hinter mir vernahm, drehte ich mich mehrmals um. Da kam es mir
vor, als ob mich etwas scharfes in den Rücken steche -- doch so oft ich mich
umwandte, bemerkte ich mit Freuden, daß der Abstand zwischen mir und den
Turkomanen immer größer wurde. Aber jetzt ließ mein Orlik nach, ich fühlte,
daß seine Sprünge schwerfälliger wurden, daß der scharfe Wind, der mir ent¬
gegenwehte, allmählich gelinder ward, und ich hörte das entsetzliche Gebrüll
wieder lauter hinter mir.


lung. Ein kirgisischer Fuhrmann sagte es mir gestern. Bei den Quellen, sagte
er, am Hügel mit dem gespaltenen Kamm. Dort ist dieser gespaltene Kamm."

Es war sehr wahrscheinlich, ja es konnte gar nicht anders sein, als daß
die Abtheilung ganz nahe, höchstens acht Werst weit weg war. Eine solche
Strecke konnte mein Orlik in einer halben Stunde, ja, in zwanzig Minuten
zurücklegen. Wäre es nicht einen Versuch werth? So schoß es mir durch
den Kopf. „Da dürfen wir nicht länger warten, vielleicht bekommen sie noch
Verstärkung, dann könnte es uns übel gehen," sagte der erfahrene Uralbewohner.
„Auf unseren Pferden entwischen wir auch nicht, aber Sie auf dem Ihrigen
kommen vielleicht durch. Eilen Sie ins Lager, wir halten hier aus mit Gottes
Hilfe, wenn Sie uns bald Beistand bringen."

Ich konnte nicht umhin, dem Vorschlag des Kosaken beizustimmen, denn
es war der einzig denkbare Ausweg. Die Papiere mußten Morgens in den
Händen des Obersten sein — dies war durchaus nothwendig —, und so blieb
mir keine andere Wahl, als die Kosaken zurückzulassen und meine ganze Hoff¬
nung auf Orliks Schnelligkeit zu setzen. Ich stieg ab, rückte den Sattel zurecht,
rieb meinem Pferde die Nüstern mit einem in Branntwein getränkten Tuch
und stieg wieder auf.

Die Turkomanen mußten diese Vorbereitungen verstanden haben, denn sie
geriethen in Bewegung und zogen sich auf dem Punkte zusammen, auf dem
sie meinen Ausfall erwarteten. Die Kosaken koppelten unterdessen ihre Pferde
an drei Füßen, legten sie auf den Boden, stellten sich dann mit dein Rücken
gegen einander und bereiteten sich zum Ausharren vor.

„Nun, Orlik, greif' aus!" rief ich laut. „Gott steh euch bei!" wandte ich
mich einen Augenblick zu den Kosaken zurück und ließ dem Pferde die Zügel.
Orlik machte einen Sprung wie ein wilder Bock, legte die Ohren zurück und
griff aus. Plötzlich schlug etwas an seine Kruppe, er sank ein, es schien mir,
als stolpre er aus dem Hinterfuß, aber er streckte sich und flog weiter. Die
Schüsse, die ich aus nächster Nähe auf die knochigen, unförmlichen Fratzenge¬
sichter abfeuerte, bahnten mir den Weg. Eine scharfe turkomanische Lanzenspitze
streifte mich an der Seite und zerriß mir das Hemd. „Greif aus, Orlik, greif
aus!" flüsterte ich meinem Renner ins Ohr. Da ich das Geheul der Ver¬
folger hinter mir vernahm, drehte ich mich mehrmals um. Da kam es mir
vor, als ob mich etwas scharfes in den Rücken steche — doch so oft ich mich
umwandte, bemerkte ich mit Freuden, daß der Abstand zwischen mir und den
Turkomanen immer größer wurde. Aber jetzt ließ mein Orlik nach, ich fühlte,
daß seine Sprünge schwerfälliger wurden, daß der scharfe Wind, der mir ent¬
gegenwehte, allmählich gelinder ward, und ich hörte das entsetzliche Gebrüll
wieder lauter hinter mir.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/30>, abgerufen am 03.07.2024.