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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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die Bedeutung der Städte aber wächst um so mehr, je mehr die geistige Bil¬
dung der Kirche erstarrt und versinkt, je mehr das Laienelement sich der lite-
rarischen Produktion bemächtigt. Eine geistige Bewegung hat die Städte ins
Leben gerufen; anfangs davon ausgeschlossen, haben sie diese dann selbst in
die Hand genommen, und so hat das Emporkommen der Städte wieder auf
das geistige Leben der Nation, welches bis dahin nur in der Kirche repräsen-
tirt war, zurückgewirkt.

Das vollkommene Fehlen der Städte am Beginn der beglaubigten Ge¬
schichte unserer Nation ist so wunderbar nicht, als es scheinen könnte. Die
Periode des Tacitus, dem wir die ersten genaueren Nachrichten über unser
Vaterland verdanken, zeigt uns die Germanen eben noch in dem letzten Stadium
ihrer Einwanderung in ihre neue Heimat. Und diese Heimat selbst hat dann
die nächste Weiterentwickelung des Volkes bewirkt. Wald und Sumpf herrschten
allgemein in Deutschland vor, und es galt daher zunächst das Land durch
Ausrodung der Wälder und Austrocknung der Sümpfe urbar zu machen. Das
konnte zunächst nicht durch eine intensive Kultur, es mußte durch eine extensive
geschehen, d. h. Einzelansiedelungen inmitten großer, erst halbkultivirter Lände¬
reien mußten die Regel bilden. So lange diese Natur des Landes noch nicht
überwunden war, konnten römische Kultur und römisches Leben, konnten vor
allem städtische Ansiedelungen in Deutschland keinen Eingang finden; die römi¬
schen Züge sind in wirthschaftlicher und kultureller Beziehung ebenso wirkungs¬
los gewesen wie in politischer. Ja, so wenig sind die Römer im Stande
gewesen, Charakter und Sitten der deutschen Stämme zu verändern, daß diese
im Gegentheil, sowie sie den Rhein, nunmehr aggressiv gegen das römische
Reich, überschritten, sofort daran gingen, die städtischen Ansiedelungen der Römer
zu vernichten. Noch immer wollten sie sich an die städtischen Mauern, die ihnen
wie Gefängnisse erschienen, nicht gewöhnen.

Vom fünften Jahrhundert an konzentrirt sich die Energie der germanischen
Eroberungszüge in dem Vordringen der salischen Franken nach dem Westen,
und dieses Vordringen fiel zeitlich zusammen mit der Bekehrung des mächtigen
Königs Chlodwig zum katholischen Christenthum. Durch diese beiden Momente,
namentlich durch die unmittelbare Berührung mit der römischen Kultur in
Gallien, begann allmählich eine Veränderung mit diesem vornehmsten deutschen
Stamme vor sich zu gehen. Die Bischöfe der römischen Kirche pflegten in den
römischen Munizipalstädten Galliens zu residiren; sie waren von ihren Vasallen
und ihrem Gesinde umgeben und fanden in den Städten für diesen "Hof" ihren
natürlichen Halt. Auch bei den Franken waren anfangs die höheren Geistlichen,
namentlich die Bischöfe, fast ausschließlich Römer. Noch auf einer allgemeinen
Synode von 614 ist die Zahl der fränkischen Bischöfe gegenüber den römischen


Grenzboten IV. 1379. 35

die Bedeutung der Städte aber wächst um so mehr, je mehr die geistige Bil¬
dung der Kirche erstarrt und versinkt, je mehr das Laienelement sich der lite-
rarischen Produktion bemächtigt. Eine geistige Bewegung hat die Städte ins
Leben gerufen; anfangs davon ausgeschlossen, haben sie diese dann selbst in
die Hand genommen, und so hat das Emporkommen der Städte wieder auf
das geistige Leben der Nation, welches bis dahin nur in der Kirche repräsen-
tirt war, zurückgewirkt.

Das vollkommene Fehlen der Städte am Beginn der beglaubigten Ge¬
schichte unserer Nation ist so wunderbar nicht, als es scheinen könnte. Die
Periode des Tacitus, dem wir die ersten genaueren Nachrichten über unser
Vaterland verdanken, zeigt uns die Germanen eben noch in dem letzten Stadium
ihrer Einwanderung in ihre neue Heimat. Und diese Heimat selbst hat dann
die nächste Weiterentwickelung des Volkes bewirkt. Wald und Sumpf herrschten
allgemein in Deutschland vor, und es galt daher zunächst das Land durch
Ausrodung der Wälder und Austrocknung der Sümpfe urbar zu machen. Das
konnte zunächst nicht durch eine intensive Kultur, es mußte durch eine extensive
geschehen, d. h. Einzelansiedelungen inmitten großer, erst halbkultivirter Lände¬
reien mußten die Regel bilden. So lange diese Natur des Landes noch nicht
überwunden war, konnten römische Kultur und römisches Leben, konnten vor
allem städtische Ansiedelungen in Deutschland keinen Eingang finden; die römi¬
schen Züge sind in wirthschaftlicher und kultureller Beziehung ebenso wirkungs¬
los gewesen wie in politischer. Ja, so wenig sind die Römer im Stande
gewesen, Charakter und Sitten der deutschen Stämme zu verändern, daß diese
im Gegentheil, sowie sie den Rhein, nunmehr aggressiv gegen das römische
Reich, überschritten, sofort daran gingen, die städtischen Ansiedelungen der Römer
zu vernichten. Noch immer wollten sie sich an die städtischen Mauern, die ihnen
wie Gefängnisse erschienen, nicht gewöhnen.

Vom fünften Jahrhundert an konzentrirt sich die Energie der germanischen
Eroberungszüge in dem Vordringen der salischen Franken nach dem Westen,
und dieses Vordringen fiel zeitlich zusammen mit der Bekehrung des mächtigen
Königs Chlodwig zum katholischen Christenthum. Durch diese beiden Momente,
namentlich durch die unmittelbare Berührung mit der römischen Kultur in
Gallien, begann allmählich eine Veränderung mit diesem vornehmsten deutschen
Stamme vor sich zu gehen. Die Bischöfe der römischen Kirche pflegten in den
römischen Munizipalstädten Galliens zu residiren; sie waren von ihren Vasallen
und ihrem Gesinde umgeben und fanden in den Städten für diesen „Hof" ihren
natürlichen Halt. Auch bei den Franken waren anfangs die höheren Geistlichen,
namentlich die Bischöfe, fast ausschließlich Römer. Noch auf einer allgemeinen
Synode von 614 ist die Zahl der fränkischen Bischöfe gegenüber den römischen


Grenzboten IV. 1379. 35
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[0269] die Bedeutung der Städte aber wächst um so mehr, je mehr die geistige Bil¬ dung der Kirche erstarrt und versinkt, je mehr das Laienelement sich der lite- rarischen Produktion bemächtigt. Eine geistige Bewegung hat die Städte ins Leben gerufen; anfangs davon ausgeschlossen, haben sie diese dann selbst in die Hand genommen, und so hat das Emporkommen der Städte wieder auf das geistige Leben der Nation, welches bis dahin nur in der Kirche repräsen- tirt war, zurückgewirkt. Das vollkommene Fehlen der Städte am Beginn der beglaubigten Ge¬ schichte unserer Nation ist so wunderbar nicht, als es scheinen könnte. Die Periode des Tacitus, dem wir die ersten genaueren Nachrichten über unser Vaterland verdanken, zeigt uns die Germanen eben noch in dem letzten Stadium ihrer Einwanderung in ihre neue Heimat. Und diese Heimat selbst hat dann die nächste Weiterentwickelung des Volkes bewirkt. Wald und Sumpf herrschten allgemein in Deutschland vor, und es galt daher zunächst das Land durch Ausrodung der Wälder und Austrocknung der Sümpfe urbar zu machen. Das konnte zunächst nicht durch eine intensive Kultur, es mußte durch eine extensive geschehen, d. h. Einzelansiedelungen inmitten großer, erst halbkultivirter Lände¬ reien mußten die Regel bilden. So lange diese Natur des Landes noch nicht überwunden war, konnten römische Kultur und römisches Leben, konnten vor allem städtische Ansiedelungen in Deutschland keinen Eingang finden; die römi¬ schen Züge sind in wirthschaftlicher und kultureller Beziehung ebenso wirkungs¬ los gewesen wie in politischer. Ja, so wenig sind die Römer im Stande gewesen, Charakter und Sitten der deutschen Stämme zu verändern, daß diese im Gegentheil, sowie sie den Rhein, nunmehr aggressiv gegen das römische Reich, überschritten, sofort daran gingen, die städtischen Ansiedelungen der Römer zu vernichten. Noch immer wollten sie sich an die städtischen Mauern, die ihnen wie Gefängnisse erschienen, nicht gewöhnen. Vom fünften Jahrhundert an konzentrirt sich die Energie der germanischen Eroberungszüge in dem Vordringen der salischen Franken nach dem Westen, und dieses Vordringen fiel zeitlich zusammen mit der Bekehrung des mächtigen Königs Chlodwig zum katholischen Christenthum. Durch diese beiden Momente, namentlich durch die unmittelbare Berührung mit der römischen Kultur in Gallien, begann allmählich eine Veränderung mit diesem vornehmsten deutschen Stamme vor sich zu gehen. Die Bischöfe der römischen Kirche pflegten in den römischen Munizipalstädten Galliens zu residiren; sie waren von ihren Vasallen und ihrem Gesinde umgeben und fanden in den Städten für diesen „Hof" ihren natürlichen Halt. Auch bei den Franken waren anfangs die höheren Geistlichen, namentlich die Bischöfe, fast ausschließlich Römer. Noch auf einer allgemeinen Synode von 614 ist die Zahl der fränkischen Bischöfe gegenüber den römischen Grenzboten IV. 1379. 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/269>, abgerufen am 23.07.2024.