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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Politischen Glaubensverwandten erregend wirkten und ihrerseits von ihnen nen
erregt und zuversichtlicher gestimmt wurden. Man machte die unerfreuliche
Entdeckung, daß die Zahl der Anarchisten, die zurückgeblieben waren, eine sehr
bedeutende war, und daß die Ansprüche derselben von Tag zu Tage wuchsen.
Das Wiedersehen der Freunde und Führer ließ erloschen geglaubte Gluthen
wieder glimmen und gelegentlich hell aufflammen. Man begrüßte die Begna¬
digten als "Märtyrer", man erinnerte sich mit Stolz des im Frühjahr 1871
Geschehenen, man verlangte mehr oder minder ungestüm Vergessenheit und
Vergebung für Alle, die das Gesetz noch in der Verbannung gelassen hatte,
und man sah sich von einem Theile der gemäßigten Republikaner in diesem
Verlangen unterstützt -- ein Zeichen, daß die Maßlosen wieder eine Macht
geworden waren. In Folge dessen wuchs die Dreistigkeit und die Ungeduld
derselben fortwährend, und die Demonstrationen wurden immer häufiger, bei
denen in Reden voll Haß und Trotz unter dem Zujauchzen von Tausenden die
Sache des Proletariats und des Kommunismus vertreten und gefeiert und das
ungeschwächte Fortleben der alten verbrecherischen Absichten und Pläne ohne
Sehen enthüllt wurde.

Die Ansprache, welche de Heredia als Präsident bei Eröffnung der neuen
Session des Gemeinderaths von Paris hielt, ist bei allen ihren heuchlerischen
Redensarten und trotz ihrer Ermahnungen zur Eintracht und Humanität ein
grober Verstoß gegen die politische Vernunft und die Moral. Auf die volle
Amnestie anspielend, ruft er aus: "Mit Herz und Hand verlangen wir ein
neues Gesetz der Befreiung. Paris besitzt den Stolz, sich für reif zur Eman¬
zipation zu halten, es erwartet zuversichtlich, daß man ihm Gerechtigkeit wider¬
fahren lasse. Ich fordere die allgemeine Begnadigung im Namen aller Männer
von Herz, aller vorsichtigen Politiker (vorsichtigen! der Gipfel des Wahnsinns),
aller kaltblütigen Republikaner." Wenn er zuletzt von der "blinden Wuth und
dem unpolitischen Widerstande" faselt, "welchen die Pariser Wähler gefunden",
so ist das geradezu unbegreiflich, und das Journal 6s8 vöbats hat ganz
recht gethan, dies als eine Unverschämtheit zu bezeichnen und den Redner
daran zu erinnern, daß der Pariser Gemeinderath, wenn er noch Jahre lang
ohne Dach und Fach ist, sich dafür gerade bei denen zu bedanken hat, zu deren
Gunsten heute nach allgemeiner Amnestie geschrieen wird, bei den Mordbrennern
der Kommune von 1871.

Bei der Berathung des in Marseille lagerten sozialistischen Arbeiterkon¬
gresses am 26. Oktober schloß der zweite Redner über die Lohnfrage seine
Worte mit einem Hoch auf die demokratische und soziale Republik, und drei
andere Mitglieder der Versammlung beantragten die Gründung einer großen
Arbeiterpartei in Frankreich, welche die "volkswirtschaftlichen Rechte erobern,


Politischen Glaubensverwandten erregend wirkten und ihrerseits von ihnen nen
erregt und zuversichtlicher gestimmt wurden. Man machte die unerfreuliche
Entdeckung, daß die Zahl der Anarchisten, die zurückgeblieben waren, eine sehr
bedeutende war, und daß die Ansprüche derselben von Tag zu Tage wuchsen.
Das Wiedersehen der Freunde und Führer ließ erloschen geglaubte Gluthen
wieder glimmen und gelegentlich hell aufflammen. Man begrüßte die Begna¬
digten als „Märtyrer", man erinnerte sich mit Stolz des im Frühjahr 1871
Geschehenen, man verlangte mehr oder minder ungestüm Vergessenheit und
Vergebung für Alle, die das Gesetz noch in der Verbannung gelassen hatte,
und man sah sich von einem Theile der gemäßigten Republikaner in diesem
Verlangen unterstützt — ein Zeichen, daß die Maßlosen wieder eine Macht
geworden waren. In Folge dessen wuchs die Dreistigkeit und die Ungeduld
derselben fortwährend, und die Demonstrationen wurden immer häufiger, bei
denen in Reden voll Haß und Trotz unter dem Zujauchzen von Tausenden die
Sache des Proletariats und des Kommunismus vertreten und gefeiert und das
ungeschwächte Fortleben der alten verbrecherischen Absichten und Pläne ohne
Sehen enthüllt wurde.

Die Ansprache, welche de Heredia als Präsident bei Eröffnung der neuen
Session des Gemeinderaths von Paris hielt, ist bei allen ihren heuchlerischen
Redensarten und trotz ihrer Ermahnungen zur Eintracht und Humanität ein
grober Verstoß gegen die politische Vernunft und die Moral. Auf die volle
Amnestie anspielend, ruft er aus: „Mit Herz und Hand verlangen wir ein
neues Gesetz der Befreiung. Paris besitzt den Stolz, sich für reif zur Eman¬
zipation zu halten, es erwartet zuversichtlich, daß man ihm Gerechtigkeit wider¬
fahren lasse. Ich fordere die allgemeine Begnadigung im Namen aller Männer
von Herz, aller vorsichtigen Politiker (vorsichtigen! der Gipfel des Wahnsinns),
aller kaltblütigen Republikaner." Wenn er zuletzt von der „blinden Wuth und
dem unpolitischen Widerstande" faselt, „welchen die Pariser Wähler gefunden",
so ist das geradezu unbegreiflich, und das Journal 6s8 vöbats hat ganz
recht gethan, dies als eine Unverschämtheit zu bezeichnen und den Redner
daran zu erinnern, daß der Pariser Gemeinderath, wenn er noch Jahre lang
ohne Dach und Fach ist, sich dafür gerade bei denen zu bedanken hat, zu deren
Gunsten heute nach allgemeiner Amnestie geschrieen wird, bei den Mordbrennern
der Kommune von 1871.

Bei der Berathung des in Marseille lagerten sozialistischen Arbeiterkon¬
gresses am 26. Oktober schloß der zweite Redner über die Lohnfrage seine
Worte mit einem Hoch auf die demokratische und soziale Republik, und drei
andere Mitglieder der Versammlung beantragten die Gründung einer großen
Arbeiterpartei in Frankreich, welche die „volkswirtschaftlichen Rechte erobern,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/262>, abgerufen am 23.07.2024.