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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Mit dem grundsätzlichen Verzicht auf die relativen Strafzwecke der Besserung
und Erziehung wäre nothwendig das gestimmte auf der souveränen Herrschaft
der Freiheitsstrafen ruhende Strafensystem erschüttert. "Sollen," so sagt der
Verfasser S. 73, "die strafwürdiger ziellosen Bahnen der bisherigen Straf¬
rechtspflege mit Erfolg verlassen werden, dann müssen neben der Freiheit und zu
Gunsten der Freiheit alle die übrigen durch die Menschennatur und die Rechts¬
überlieferung gegebenen Objekte möglicher Strafübel wieder zu Ehren kommen. Es
handelt sich um das Leben und die rechtliche Persönlichkeit, um den Körper und
das Vermögen. Die tolle Methode, sich in Freiheitsstrafen zu überbieten und
um des Segens bessernder Gefüngnißedukation willen alle übrigen Strafarten
verfallen zu lassen, zeichnet Deutschland vor allen modernen Kulturvölkern ver-
hüngnißvoll aus." -- "Während in England der Galgen noch heute in seiner
alten unheimlichen Gestalt aufrecht steht, die Deportation bis vor zwanzig
Jahren in voller Uebung war, und seitdem härteste Zwangsarbeit verhängt und
im Nothfalle durch Körperstrafen in ihrer abschreckenden Wirksamkeit aufrecht¬
erhalten wird, während Frankreich sich mit Guillotine, Transportation, Bagno
und rmnirenden Geldstrafen zu helfen weiß, Italien in seinen Inseln Depor¬
tation mit schwerster Strafknechtschaft wirksam vereinigt, in Oesterreich und Ru߬
land Todesstrafe, Körperstrafen, Strafkolonien, mannichfach verschärfte Formen
harter Kerkerhaft unangefochten bestehen, haben gerade wir Deutschen, das
ärmste, praktisch ungeschickteste aller Völker, uns für berufen erachtet, nur durch
zahlreiche, mit allem architektonischen Komfort der Neuzeit eingerichtete Straf¬
anstalten, durch sittliche Gefüngnißerziehung, durch die klösterliche Einsamkeit
säuberlicher Zellendaseins und all das sonstige Rosenwasser einer überquellenden
Humanität das Gorgonenantlitz des Verbrecherthums zu besänftigen und seine
Wilde Leidenschaft zu bekämpfen."

Rückkehr zu andern Strafarten, als sie die Freiheits¬
entziehung ermöglicht, ist das letzte Ziel, das zu erstreben ist. "Die
Todesstrafe ist trotz ihres gesetzlichen Bestehens thatsächlich seit einigen Jahr¬
zehnten im größten Theile des Reiches so vollständig außer Uebung gerathen,
daß wir schlimmer daran sind, wie wenn es sich um ihre gesetzliche Wiederein¬
führung handelte. Man weiß nicht recht, wo und wie wieder mit dem schneidigen
Ernste des Strafvollzugs zu beginnen. Man sträubt sich vor dein stillen Gewissens¬
vorwurfe, daß man je nach menschenfreundlicher oder menschenfeindlicher Gemüths¬
stimmung über Tod und Leben verfügt. Inzwischen hat gerade die Erscheinung,
daß die Staatsgewalt zwar noch immer das Recht, nicht mehr aber den Muth
besaß, das Schwert irdischer Gerechtigkeit parteilos zu handhaben, besonders
verhüngnißvoll dazu beigetragen, der Strafgewalt überhaupt den letzten Rest ab¬
schreckender Gewalt zu nehmen." -- "Führte dann die an Zahl und Bestialität zu-


Mit dem grundsätzlichen Verzicht auf die relativen Strafzwecke der Besserung
und Erziehung wäre nothwendig das gestimmte auf der souveränen Herrschaft
der Freiheitsstrafen ruhende Strafensystem erschüttert. „Sollen," so sagt der
Verfasser S. 73, „die strafwürdiger ziellosen Bahnen der bisherigen Straf¬
rechtspflege mit Erfolg verlassen werden, dann müssen neben der Freiheit und zu
Gunsten der Freiheit alle die übrigen durch die Menschennatur und die Rechts¬
überlieferung gegebenen Objekte möglicher Strafübel wieder zu Ehren kommen. Es
handelt sich um das Leben und die rechtliche Persönlichkeit, um den Körper und
das Vermögen. Die tolle Methode, sich in Freiheitsstrafen zu überbieten und
um des Segens bessernder Gefüngnißedukation willen alle übrigen Strafarten
verfallen zu lassen, zeichnet Deutschland vor allen modernen Kulturvölkern ver-
hüngnißvoll aus." — „Während in England der Galgen noch heute in seiner
alten unheimlichen Gestalt aufrecht steht, die Deportation bis vor zwanzig
Jahren in voller Uebung war, und seitdem härteste Zwangsarbeit verhängt und
im Nothfalle durch Körperstrafen in ihrer abschreckenden Wirksamkeit aufrecht¬
erhalten wird, während Frankreich sich mit Guillotine, Transportation, Bagno
und rmnirenden Geldstrafen zu helfen weiß, Italien in seinen Inseln Depor¬
tation mit schwerster Strafknechtschaft wirksam vereinigt, in Oesterreich und Ru߬
land Todesstrafe, Körperstrafen, Strafkolonien, mannichfach verschärfte Formen
harter Kerkerhaft unangefochten bestehen, haben gerade wir Deutschen, das
ärmste, praktisch ungeschickteste aller Völker, uns für berufen erachtet, nur durch
zahlreiche, mit allem architektonischen Komfort der Neuzeit eingerichtete Straf¬
anstalten, durch sittliche Gefüngnißerziehung, durch die klösterliche Einsamkeit
säuberlicher Zellendaseins und all das sonstige Rosenwasser einer überquellenden
Humanität das Gorgonenantlitz des Verbrecherthums zu besänftigen und seine
Wilde Leidenschaft zu bekämpfen."

Rückkehr zu andern Strafarten, als sie die Freiheits¬
entziehung ermöglicht, ist das letzte Ziel, das zu erstreben ist. „Die
Todesstrafe ist trotz ihres gesetzlichen Bestehens thatsächlich seit einigen Jahr¬
zehnten im größten Theile des Reiches so vollständig außer Uebung gerathen,
daß wir schlimmer daran sind, wie wenn es sich um ihre gesetzliche Wiederein¬
führung handelte. Man weiß nicht recht, wo und wie wieder mit dem schneidigen
Ernste des Strafvollzugs zu beginnen. Man sträubt sich vor dein stillen Gewissens¬
vorwurfe, daß man je nach menschenfreundlicher oder menschenfeindlicher Gemüths¬
stimmung über Tod und Leben verfügt. Inzwischen hat gerade die Erscheinung,
daß die Staatsgewalt zwar noch immer das Recht, nicht mehr aber den Muth
besaß, das Schwert irdischer Gerechtigkeit parteilos zu handhaben, besonders
verhüngnißvoll dazu beigetragen, der Strafgewalt überhaupt den letzten Rest ab¬
schreckender Gewalt zu nehmen." — „Führte dann die an Zahl und Bestialität zu-


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[0247] Mit dem grundsätzlichen Verzicht auf die relativen Strafzwecke der Besserung und Erziehung wäre nothwendig das gestimmte auf der souveränen Herrschaft der Freiheitsstrafen ruhende Strafensystem erschüttert. „Sollen," so sagt der Verfasser S. 73, „die strafwürdiger ziellosen Bahnen der bisherigen Straf¬ rechtspflege mit Erfolg verlassen werden, dann müssen neben der Freiheit und zu Gunsten der Freiheit alle die übrigen durch die Menschennatur und die Rechts¬ überlieferung gegebenen Objekte möglicher Strafübel wieder zu Ehren kommen. Es handelt sich um das Leben und die rechtliche Persönlichkeit, um den Körper und das Vermögen. Die tolle Methode, sich in Freiheitsstrafen zu überbieten und um des Segens bessernder Gefüngnißedukation willen alle übrigen Strafarten verfallen zu lassen, zeichnet Deutschland vor allen modernen Kulturvölkern ver- hüngnißvoll aus." — „Während in England der Galgen noch heute in seiner alten unheimlichen Gestalt aufrecht steht, die Deportation bis vor zwanzig Jahren in voller Uebung war, und seitdem härteste Zwangsarbeit verhängt und im Nothfalle durch Körperstrafen in ihrer abschreckenden Wirksamkeit aufrecht¬ erhalten wird, während Frankreich sich mit Guillotine, Transportation, Bagno und rmnirenden Geldstrafen zu helfen weiß, Italien in seinen Inseln Depor¬ tation mit schwerster Strafknechtschaft wirksam vereinigt, in Oesterreich und Ru߬ land Todesstrafe, Körperstrafen, Strafkolonien, mannichfach verschärfte Formen harter Kerkerhaft unangefochten bestehen, haben gerade wir Deutschen, das ärmste, praktisch ungeschickteste aller Völker, uns für berufen erachtet, nur durch zahlreiche, mit allem architektonischen Komfort der Neuzeit eingerichtete Straf¬ anstalten, durch sittliche Gefüngnißerziehung, durch die klösterliche Einsamkeit säuberlicher Zellendaseins und all das sonstige Rosenwasser einer überquellenden Humanität das Gorgonenantlitz des Verbrecherthums zu besänftigen und seine Wilde Leidenschaft zu bekämpfen." Rückkehr zu andern Strafarten, als sie die Freiheits¬ entziehung ermöglicht, ist das letzte Ziel, das zu erstreben ist. „Die Todesstrafe ist trotz ihres gesetzlichen Bestehens thatsächlich seit einigen Jahr¬ zehnten im größten Theile des Reiches so vollständig außer Uebung gerathen, daß wir schlimmer daran sind, wie wenn es sich um ihre gesetzliche Wiederein¬ führung handelte. Man weiß nicht recht, wo und wie wieder mit dem schneidigen Ernste des Strafvollzugs zu beginnen. Man sträubt sich vor dein stillen Gewissens¬ vorwurfe, daß man je nach menschenfreundlicher oder menschenfeindlicher Gemüths¬ stimmung über Tod und Leben verfügt. Inzwischen hat gerade die Erscheinung, daß die Staatsgewalt zwar noch immer das Recht, nicht mehr aber den Muth besaß, das Schwert irdischer Gerechtigkeit parteilos zu handhaben, besonders verhüngnißvoll dazu beigetragen, der Strafgewalt überhaupt den letzten Rest ab¬ schreckender Gewalt zu nehmen." — „Führte dann die an Zahl und Bestialität zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/247>, abgerufen am 23.07.2024.