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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Betrachtung. Sie werden in der Erinnerung des Volkes lebendig wieder
aufgetaucht sein, wenn es heilige Gestalten auf Thierköpfen stehend, Männer
von Löwen verfolgt oder Löwen mit der Beute im Rachen auf Bildern er¬
blickte. Auch zahlreiche Heiligenlegenden sind dem Lxseuwra "zcelssias ein¬
verleibt; sie können, wie Springer sagt, geradezu als Textbuch für legendarische
Darstellungen in der Kunst verwendet werden, und hier hätten wir eine
wichtige Ergänzung zu den von Schultz gegebenen Nachweisen. Aber auch
über die Hierarchie des Himmels, über die Ordnung, welche in der kaum
übersehbaren Fülle der himmlischen Heerschaaren waltet, werden wir belehrt.
Am Feste "Allerheiligen", dem dazu passendsten Tage, erhebt sich Honorius
gleichsam zu eiuer Vision und läßt die ganze curia eosli vor unsern Blicken
vorüberziehen. Dem "Allerheiligsten" geht Maria zur Seite, dann folgen neun
Engelschöre, von drei Erzengeln geführt, die zwölf Patriarchen des alten
Bundes, denen sich die vier großen und die zwölf kleinen Propheten anschließen.
Der Täufer leitet zur Gruppe der Apostel über. Dann kommen die Märtyrer,
von denen die vornehmsten mit Namen angeführt werden, dann die Kirchen¬
väter, die Bekenner, die heiligen Mönche, Einsiedler, Jungfrauen und Büßer.
Kein Wunder, daß das Volksgemüth dann an der überlieferten Ordnung
festhielt und sie bei jeder Gelegenheit, also auch in der bildenden Kunst, und
zwar selbst bis in die Zeit der van Eyck und Albrecht Dürers herab, in dieser
oder wenigstens einer ähnlichen Ordnung wiederholte.

Die Eindrücke aber, die das Volk aus der Predigt erhielt, wurden ergänzt
und verstärkt dadurch, daß die Hymnen und Sequenzen, die an den Festtagen
gesungen wurden, regelmäßig den gleichen Gedankengang verfolgten wie die
Festpredigt und die dort angeschlagene Stimmung festhielten. In schlagender
Weise tritt dies z. B. in den Hymnen am Allerheiligenfeste zu Tage. Aber
auch an allen andern hohen Festen ergänzen sich auf dieselbe Weise Predigt
und Gesang, sie erzählen dasselbe Ereigniß und regen die gleichen Gedanken
und Empfindungen an. Auch der altchristliche Hymnus und die mittelalterliche
Sequenz ergehWch mit Vorliebe in Parallelen und Praefigurationen und entlehnt
die Beispiele für die Kämpfe und Verfolgungen der gläubigen Seele aus der
Thierwelt.

Als eine glänzende Probe für die Wichtigkeit und -- die Richtigkeit der
neu gewonnenen Einsicht stellt Springer an den Schluß seiner Untersuchungen
eine neue Interpretation eines der herrlichsten Werke romanischer Kunst: des
Skulpturenschmuckes der Goldner Pforte am Dome zu Freiberg.

Die hervorragendsten Werke der romanischen Skulptur in Deutschland
sind bekanntlich auf sächsischem Boden zu suchen: es sind die Kanzelbühne
und der Lettner mit der Kreuzigungsgruppe in der Kirche zu Wechselburg und


Betrachtung. Sie werden in der Erinnerung des Volkes lebendig wieder
aufgetaucht sein, wenn es heilige Gestalten auf Thierköpfen stehend, Männer
von Löwen verfolgt oder Löwen mit der Beute im Rachen auf Bildern er¬
blickte. Auch zahlreiche Heiligenlegenden sind dem Lxseuwra «zcelssias ein¬
verleibt; sie können, wie Springer sagt, geradezu als Textbuch für legendarische
Darstellungen in der Kunst verwendet werden, und hier hätten wir eine
wichtige Ergänzung zu den von Schultz gegebenen Nachweisen. Aber auch
über die Hierarchie des Himmels, über die Ordnung, welche in der kaum
übersehbaren Fülle der himmlischen Heerschaaren waltet, werden wir belehrt.
Am Feste „Allerheiligen", dem dazu passendsten Tage, erhebt sich Honorius
gleichsam zu eiuer Vision und läßt die ganze curia eosli vor unsern Blicken
vorüberziehen. Dem „Allerheiligsten" geht Maria zur Seite, dann folgen neun
Engelschöre, von drei Erzengeln geführt, die zwölf Patriarchen des alten
Bundes, denen sich die vier großen und die zwölf kleinen Propheten anschließen.
Der Täufer leitet zur Gruppe der Apostel über. Dann kommen die Märtyrer,
von denen die vornehmsten mit Namen angeführt werden, dann die Kirchen¬
väter, die Bekenner, die heiligen Mönche, Einsiedler, Jungfrauen und Büßer.
Kein Wunder, daß das Volksgemüth dann an der überlieferten Ordnung
festhielt und sie bei jeder Gelegenheit, also auch in der bildenden Kunst, und
zwar selbst bis in die Zeit der van Eyck und Albrecht Dürers herab, in dieser
oder wenigstens einer ähnlichen Ordnung wiederholte.

Die Eindrücke aber, die das Volk aus der Predigt erhielt, wurden ergänzt
und verstärkt dadurch, daß die Hymnen und Sequenzen, die an den Festtagen
gesungen wurden, regelmäßig den gleichen Gedankengang verfolgten wie die
Festpredigt und die dort angeschlagene Stimmung festhielten. In schlagender
Weise tritt dies z. B. in den Hymnen am Allerheiligenfeste zu Tage. Aber
auch an allen andern hohen Festen ergänzen sich auf dieselbe Weise Predigt
und Gesang, sie erzählen dasselbe Ereigniß und regen die gleichen Gedanken
und Empfindungen an. Auch der altchristliche Hymnus und die mittelalterliche
Sequenz ergehWch mit Vorliebe in Parallelen und Praefigurationen und entlehnt
die Beispiele für die Kämpfe und Verfolgungen der gläubigen Seele aus der
Thierwelt.

Als eine glänzende Probe für die Wichtigkeit und — die Richtigkeit der
neu gewonnenen Einsicht stellt Springer an den Schluß seiner Untersuchungen
eine neue Interpretation eines der herrlichsten Werke romanischer Kunst: des
Skulpturenschmuckes der Goldner Pforte am Dome zu Freiberg.

Die hervorragendsten Werke der romanischen Skulptur in Deutschland
sind bekanntlich auf sächsischem Boden zu suchen: es sind die Kanzelbühne
und der Lettner mit der Kreuzigungsgruppe in der Kirche zu Wechselburg und


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[0229] Betrachtung. Sie werden in der Erinnerung des Volkes lebendig wieder aufgetaucht sein, wenn es heilige Gestalten auf Thierköpfen stehend, Männer von Löwen verfolgt oder Löwen mit der Beute im Rachen auf Bildern er¬ blickte. Auch zahlreiche Heiligenlegenden sind dem Lxseuwra «zcelssias ein¬ verleibt; sie können, wie Springer sagt, geradezu als Textbuch für legendarische Darstellungen in der Kunst verwendet werden, und hier hätten wir eine wichtige Ergänzung zu den von Schultz gegebenen Nachweisen. Aber auch über die Hierarchie des Himmels, über die Ordnung, welche in der kaum übersehbaren Fülle der himmlischen Heerschaaren waltet, werden wir belehrt. Am Feste „Allerheiligen", dem dazu passendsten Tage, erhebt sich Honorius gleichsam zu eiuer Vision und läßt die ganze curia eosli vor unsern Blicken vorüberziehen. Dem „Allerheiligsten" geht Maria zur Seite, dann folgen neun Engelschöre, von drei Erzengeln geführt, die zwölf Patriarchen des alten Bundes, denen sich die vier großen und die zwölf kleinen Propheten anschließen. Der Täufer leitet zur Gruppe der Apostel über. Dann kommen die Märtyrer, von denen die vornehmsten mit Namen angeführt werden, dann die Kirchen¬ väter, die Bekenner, die heiligen Mönche, Einsiedler, Jungfrauen und Büßer. Kein Wunder, daß das Volksgemüth dann an der überlieferten Ordnung festhielt und sie bei jeder Gelegenheit, also auch in der bildenden Kunst, und zwar selbst bis in die Zeit der van Eyck und Albrecht Dürers herab, in dieser oder wenigstens einer ähnlichen Ordnung wiederholte. Die Eindrücke aber, die das Volk aus der Predigt erhielt, wurden ergänzt und verstärkt dadurch, daß die Hymnen und Sequenzen, die an den Festtagen gesungen wurden, regelmäßig den gleichen Gedankengang verfolgten wie die Festpredigt und die dort angeschlagene Stimmung festhielten. In schlagender Weise tritt dies z. B. in den Hymnen am Allerheiligenfeste zu Tage. Aber auch an allen andern hohen Festen ergänzen sich auf dieselbe Weise Predigt und Gesang, sie erzählen dasselbe Ereigniß und regen die gleichen Gedanken und Empfindungen an. Auch der altchristliche Hymnus und die mittelalterliche Sequenz ergehWch mit Vorliebe in Parallelen und Praefigurationen und entlehnt die Beispiele für die Kämpfe und Verfolgungen der gläubigen Seele aus der Thierwelt. Als eine glänzende Probe für die Wichtigkeit und — die Richtigkeit der neu gewonnenen Einsicht stellt Springer an den Schluß seiner Untersuchungen eine neue Interpretation eines der herrlichsten Werke romanischer Kunst: des Skulpturenschmuckes der Goldner Pforte am Dome zu Freiberg. Die hervorragendsten Werke der romanischen Skulptur in Deutschland sind bekanntlich auf sächsischem Boden zu suchen: es sind die Kanzelbühne und der Lettner mit der Kreuzigungsgruppe in der Kirche zu Wechselburg und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/229>, abgerufen am 23.07.2024.