Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

mählich aber umspannte diese Typologie wie eine Kette die ganze Welt der
Vorstellungen und Erscheinungen, zog auch das Thierreich und die moralischen
Begriffe in ihren Kreis und fand kaum eine Grenze. Mit unermüdlicher Spitz¬
findigkeit wurden typologische und moralisch-allegorische Erklärungen auf ein¬
ander gehäuft, und sie winden wahrscheinlich den Sinn vollständig verwirrt
haben, wenn nicht glücklicherweise fast immer dieselben Objekte des Mysteriums
sich herausgestellt hätten. Immer wieder wird auf das ewige Leben, auf die
Kirche, auf die Gemeinschaft der Gläubigen, auf die Tilgend und die Sünde, den
Sieg des Guten, die Niederlage des Bösen Bezug genommen, immer wieder
betont, daß diese unter den Bildern des alten Testaments, der Thierwelt, der
Theile der Erde u. s. w. verstanden werden. Aegypten und Babylon bedeuten
die Welt, Nebukadnezar den Teufel, Jerusalem das Paradies, der arme Lazarus
die Frommen, der Zöllner, der mit dem Pharisäer betet, die Heiden, der König,
der seinem Sohne die Hochzeit ausrichtet, Gottvater, der seinen Sohn der Kirche
vermählt. So stehen auch die vier Paradiesesflüsse, die vier Weltgegenden und
die vier Evangelien mit einander in Verbindung, die Ameisen, die Bienen, die
Seidenraupen und die Spinnen bieten Beispiele des christlichen Lebens. Nament¬
lich zahlreich sind die Beziehungen, die zwischen einzelnen Thieren und dem
Teufel und der Sünde walten. In dieser typologischen Weise muß die über¬
wiegende Mehrzahl aller Bilder, in denen die kirchliche Kunst des frühen Mittel¬
alters sich bewegt, gefaßt werden-

Woher nun, fragt Springer, entlehnten die Künstler diese Bilder? Daß sie
aus den weitzerstreuten, nicht immer leicht zugänglichen Schriften der Kirchen¬
väter und Theologen mühsam die brauchbaren Motive zusammengesucht und
sich persönlich längeren Vorarbeiten literarischer Natur unterzogen haben sollten,
ist unwahrscheinlich. Wir müssen auch für die biblischen Stoffe, ebenso wie für
die Heiligenlegenden, nach der volksthümlichen Quelle ausspähen, aus denen die
Künstler ihre Anregung holten. Auf eine solche Quelle aber wenigstens können
wir auch heute noch "den Finger legen", auf eine Quelle, welche der Phantasie
des Volkes in jener Zeit eine Fülle von Vorstellungen zuführte, allen gemein¬
sam und leicht verständlich war, und welche denn auch eifrig benutzt wurde:
das war die Predigt und das im Gottesdienste eng damit verbundene Kirchen¬
lied, der Hymnus, die Sequenz. In ihnen kehren nicht blos eine Menge der
von Bildhauern und Malern aufgeführten Bilder wieder, sondern sie kehren
auch in derselben Auffassung und Anordnung wieder, die in den Kunstdar¬
stellungen beobachtet werden.

Aus den erhaltenen mittelalterlichen Predigtsammlnngen wählt Springer
die wichtigste, den "Kirchenspiegel" (Lxsczulum soelssiaö) des Honorius von
Antun (?) in Burgund (Honorws ^.uAustoänllMsis) aus, um an dieser Probe


mählich aber umspannte diese Typologie wie eine Kette die ganze Welt der
Vorstellungen und Erscheinungen, zog auch das Thierreich und die moralischen
Begriffe in ihren Kreis und fand kaum eine Grenze. Mit unermüdlicher Spitz¬
findigkeit wurden typologische und moralisch-allegorische Erklärungen auf ein¬
ander gehäuft, und sie winden wahrscheinlich den Sinn vollständig verwirrt
haben, wenn nicht glücklicherweise fast immer dieselben Objekte des Mysteriums
sich herausgestellt hätten. Immer wieder wird auf das ewige Leben, auf die
Kirche, auf die Gemeinschaft der Gläubigen, auf die Tilgend und die Sünde, den
Sieg des Guten, die Niederlage des Bösen Bezug genommen, immer wieder
betont, daß diese unter den Bildern des alten Testaments, der Thierwelt, der
Theile der Erde u. s. w. verstanden werden. Aegypten und Babylon bedeuten
die Welt, Nebukadnezar den Teufel, Jerusalem das Paradies, der arme Lazarus
die Frommen, der Zöllner, der mit dem Pharisäer betet, die Heiden, der König,
der seinem Sohne die Hochzeit ausrichtet, Gottvater, der seinen Sohn der Kirche
vermählt. So stehen auch die vier Paradiesesflüsse, die vier Weltgegenden und
die vier Evangelien mit einander in Verbindung, die Ameisen, die Bienen, die
Seidenraupen und die Spinnen bieten Beispiele des christlichen Lebens. Nament¬
lich zahlreich sind die Beziehungen, die zwischen einzelnen Thieren und dem
Teufel und der Sünde walten. In dieser typologischen Weise muß die über¬
wiegende Mehrzahl aller Bilder, in denen die kirchliche Kunst des frühen Mittel¬
alters sich bewegt, gefaßt werden-

Woher nun, fragt Springer, entlehnten die Künstler diese Bilder? Daß sie
aus den weitzerstreuten, nicht immer leicht zugänglichen Schriften der Kirchen¬
väter und Theologen mühsam die brauchbaren Motive zusammengesucht und
sich persönlich längeren Vorarbeiten literarischer Natur unterzogen haben sollten,
ist unwahrscheinlich. Wir müssen auch für die biblischen Stoffe, ebenso wie für
die Heiligenlegenden, nach der volksthümlichen Quelle ausspähen, aus denen die
Künstler ihre Anregung holten. Auf eine solche Quelle aber wenigstens können
wir auch heute noch „den Finger legen", auf eine Quelle, welche der Phantasie
des Volkes in jener Zeit eine Fülle von Vorstellungen zuführte, allen gemein¬
sam und leicht verständlich war, und welche denn auch eifrig benutzt wurde:
das war die Predigt und das im Gottesdienste eng damit verbundene Kirchen¬
lied, der Hymnus, die Sequenz. In ihnen kehren nicht blos eine Menge der
von Bildhauern und Malern aufgeführten Bilder wieder, sondern sie kehren
auch in derselben Auffassung und Anordnung wieder, die in den Kunstdar¬
stellungen beobachtet werden.

Aus den erhaltenen mittelalterlichen Predigtsammlnngen wählt Springer
die wichtigste, den „Kirchenspiegel" (Lxsczulum soelssiaö) des Honorius von
Antun (?) in Burgund (Honorws ^.uAustoänllMsis) aus, um an dieser Probe


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0227" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143282"/>
          <p xml:id="ID_667" prev="#ID_666"> mählich aber umspannte diese Typologie wie eine Kette die ganze Welt der<lb/>
Vorstellungen und Erscheinungen, zog auch das Thierreich und die moralischen<lb/>
Begriffe in ihren Kreis und fand kaum eine Grenze. Mit unermüdlicher Spitz¬<lb/>
findigkeit wurden typologische und moralisch-allegorische Erklärungen auf ein¬<lb/>
ander gehäuft, und sie winden wahrscheinlich den Sinn vollständig verwirrt<lb/>
haben, wenn nicht glücklicherweise fast immer dieselben Objekte des Mysteriums<lb/>
sich herausgestellt hätten. Immer wieder wird auf das ewige Leben, auf die<lb/>
Kirche, auf die Gemeinschaft der Gläubigen, auf die Tilgend und die Sünde, den<lb/>
Sieg des Guten, die Niederlage des Bösen Bezug genommen, immer wieder<lb/>
betont, daß diese unter den Bildern des alten Testaments, der Thierwelt, der<lb/>
Theile der Erde u. s. w. verstanden werden. Aegypten und Babylon bedeuten<lb/>
die Welt, Nebukadnezar den Teufel, Jerusalem das Paradies, der arme Lazarus<lb/>
die Frommen, der Zöllner, der mit dem Pharisäer betet, die Heiden, der König,<lb/>
der seinem Sohne die Hochzeit ausrichtet, Gottvater, der seinen Sohn der Kirche<lb/>
vermählt. So stehen auch die vier Paradiesesflüsse, die vier Weltgegenden und<lb/>
die vier Evangelien mit einander in Verbindung, die Ameisen, die Bienen, die<lb/>
Seidenraupen und die Spinnen bieten Beispiele des christlichen Lebens. Nament¬<lb/>
lich zahlreich sind die Beziehungen, die zwischen einzelnen Thieren und dem<lb/>
Teufel und der Sünde walten. In dieser typologischen Weise muß die über¬<lb/>
wiegende Mehrzahl aller Bilder, in denen die kirchliche Kunst des frühen Mittel¬<lb/>
alters sich bewegt, gefaßt werden-</p><lb/>
          <p xml:id="ID_668"> Woher nun, fragt Springer, entlehnten die Künstler diese Bilder? Daß sie<lb/>
aus den weitzerstreuten, nicht immer leicht zugänglichen Schriften der Kirchen¬<lb/>
väter und Theologen mühsam die brauchbaren Motive zusammengesucht und<lb/>
sich persönlich längeren Vorarbeiten literarischer Natur unterzogen haben sollten,<lb/>
ist unwahrscheinlich. Wir müssen auch für die biblischen Stoffe, ebenso wie für<lb/>
die Heiligenlegenden, nach der volksthümlichen Quelle ausspähen, aus denen die<lb/>
Künstler ihre Anregung holten. Auf eine solche Quelle aber wenigstens können<lb/>
wir auch heute noch &#x201E;den Finger legen", auf eine Quelle, welche der Phantasie<lb/>
des Volkes in jener Zeit eine Fülle von Vorstellungen zuführte, allen gemein¬<lb/>
sam und leicht verständlich war, und welche denn auch eifrig benutzt wurde:<lb/>
das war die Predigt und das im Gottesdienste eng damit verbundene Kirchen¬<lb/>
lied, der Hymnus, die Sequenz. In ihnen kehren nicht blos eine Menge der<lb/>
von Bildhauern und Malern aufgeführten Bilder wieder, sondern sie kehren<lb/>
auch in derselben Auffassung und Anordnung wieder, die in den Kunstdar¬<lb/>
stellungen beobachtet werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_669" next="#ID_670"> Aus den erhaltenen mittelalterlichen Predigtsammlnngen wählt Springer<lb/>
die wichtigste, den &#x201E;Kirchenspiegel" (Lxsczulum soelssiaö) des Honorius von<lb/>
Antun (?) in Burgund (Honorws ^.uAustoänllMsis) aus, um an dieser Probe</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0227] mählich aber umspannte diese Typologie wie eine Kette die ganze Welt der Vorstellungen und Erscheinungen, zog auch das Thierreich und die moralischen Begriffe in ihren Kreis und fand kaum eine Grenze. Mit unermüdlicher Spitz¬ findigkeit wurden typologische und moralisch-allegorische Erklärungen auf ein¬ ander gehäuft, und sie winden wahrscheinlich den Sinn vollständig verwirrt haben, wenn nicht glücklicherweise fast immer dieselben Objekte des Mysteriums sich herausgestellt hätten. Immer wieder wird auf das ewige Leben, auf die Kirche, auf die Gemeinschaft der Gläubigen, auf die Tilgend und die Sünde, den Sieg des Guten, die Niederlage des Bösen Bezug genommen, immer wieder betont, daß diese unter den Bildern des alten Testaments, der Thierwelt, der Theile der Erde u. s. w. verstanden werden. Aegypten und Babylon bedeuten die Welt, Nebukadnezar den Teufel, Jerusalem das Paradies, der arme Lazarus die Frommen, der Zöllner, der mit dem Pharisäer betet, die Heiden, der König, der seinem Sohne die Hochzeit ausrichtet, Gottvater, der seinen Sohn der Kirche vermählt. So stehen auch die vier Paradiesesflüsse, die vier Weltgegenden und die vier Evangelien mit einander in Verbindung, die Ameisen, die Bienen, die Seidenraupen und die Spinnen bieten Beispiele des christlichen Lebens. Nament¬ lich zahlreich sind die Beziehungen, die zwischen einzelnen Thieren und dem Teufel und der Sünde walten. In dieser typologischen Weise muß die über¬ wiegende Mehrzahl aller Bilder, in denen die kirchliche Kunst des frühen Mittel¬ alters sich bewegt, gefaßt werden- Woher nun, fragt Springer, entlehnten die Künstler diese Bilder? Daß sie aus den weitzerstreuten, nicht immer leicht zugänglichen Schriften der Kirchen¬ väter und Theologen mühsam die brauchbaren Motive zusammengesucht und sich persönlich längeren Vorarbeiten literarischer Natur unterzogen haben sollten, ist unwahrscheinlich. Wir müssen auch für die biblischen Stoffe, ebenso wie für die Heiligenlegenden, nach der volksthümlichen Quelle ausspähen, aus denen die Künstler ihre Anregung holten. Auf eine solche Quelle aber wenigstens können wir auch heute noch „den Finger legen", auf eine Quelle, welche der Phantasie des Volkes in jener Zeit eine Fülle von Vorstellungen zuführte, allen gemein¬ sam und leicht verständlich war, und welche denn auch eifrig benutzt wurde: das war die Predigt und das im Gottesdienste eng damit verbundene Kirchen¬ lied, der Hymnus, die Sequenz. In ihnen kehren nicht blos eine Menge der von Bildhauern und Malern aufgeführten Bilder wieder, sondern sie kehren auch in derselben Auffassung und Anordnung wieder, die in den Kunstdar¬ stellungen beobachtet werden. Aus den erhaltenen mittelalterlichen Predigtsammlnngen wählt Springer die wichtigste, den „Kirchenspiegel" (Lxsczulum soelssiaö) des Honorius von Antun (?) in Burgund (Honorws ^.uAustoänllMsis) aus, um an dieser Probe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/227
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/227>, abgerufen am 23.07.2024.