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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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(1879) und umfaßt im ganzen 40 Druckseiten. Aber mit diesen anspruchs¬
losen 40 Seiten, die hier im Schatten akademischer Sitzungsberichte ausgehoben
worden sind -- begraben, beigesetzt, möchte man sagen --, wo schwerlich viele
Leute darnach suchen werden, ist der Kunstwissenschaft ein größerer Dienst er¬
wiesen als mit manchem dickleibigen Buche, das sich anspruchsvoll ans Licht
der Öffentlichkeit drangt. Es ist so kurze Zeit erst her, daß Springer alle
ernsteren Freunde der Kunstwissenschaft durch die reife und schöne Frucht seiner
Raffael- und Michelangelo-Studien erfreut hat, und er ist seitdem schon wieder so
emsig dabei gewesen, aus dem reichen Schatze seines Wissens anch den weitesten
Kreisen mit einer Liebenswürdigkeit, "von der niemand nichts weiß", zu spenden,
daß ihn wohl kaum jemand gleichzeitig auf den dornigen Pfaden der Quellen¬
erforschung mittelalterlicher Kunstdarstellungen vermuthet haben wird. Sicher¬
lich wird es den Lesern d. Bl. willkommen sein, wenn wir versuchen, im Nach¬
folgenden die interessanten Resultate der Springerschen Forschungen in Kürze
vorzulegen.

Springer zeigt, daß zahlreiche Bildmotive der mittelalterlichen Kunst zwar
schließlich in der Bibel wurzeln, ihre ganze Auffassung aber, ihre Anordnung
und ihr Zusammenhang so wesentlich verschieden von deu betreffenden biblischen
Stellen ist, daß wir unbedingt eine andere Quelle unmittelbarer Anregung und
Belehrung annehmen müssen, als die biblischen Schriften sie boten. Was die
Auffassung betrifft, so gehen z. B. die zahlreichen Thiergestalten, die einen
Hauptbestandtheil des frühmittelalterlichen Bilderkreises bilden, und in denen man
bis in die neueste Zeit herein seltsame Auswüchse einer phantastischen, dunkeln
Symbolik vermuthet hat, zum guten Theil auf Psalmstellen zurück, in denen
der Bilderstoff freilich nicht bestimmt abgegrenzt vorliegt, die die Phantasie des
Mittelalters sich aber in eine konkrete sinnliche Form umsetzte. Das weitver¬
breitete Bild Christi z. B., der auf dem Löwen und dem Otter geht und auf
den jungen Löwen und Drachen tritt, die Bilder, in denen Heilige auf Menschen
und Thiere wie auf einen Schemel ihre Füße legen, Löwen eine Menschengestalt
(die Seele) im Rachen gepackt halten u. ahnt., beruhen sämmtlich auf den poetischen
Vorstellungen von Psalmstellen, welche die lebendige Phantasie des Mittel¬
alters sich unmittelbar in Bilder verwandelte. Dieselbe Phantasie aber war
es, die in der Anordnung und Verbindung von Einzelgestalten, Gruppen und
Szenen weit über den biblischen Text hinausging. Durch das ganze Mittel¬
alter hindurch läßt sich die sogenannte "thpvlvgische" Auslegung der Bibel ver¬
folgen, die überall nach "Praefigurationen" sucht. -Anfangs beschränkte sich dieselbe
auf die Ergründung eines tieferen Sinnes, der hinter dem schlichten äußeren
Wortsinn lauschen soll; namentlich wird der Nachweis geführt, daß in Christus
nur erfüllt werde, was die Propheten des alten Bundes verheißen haben. All-


(1879) und umfaßt im ganzen 40 Druckseiten. Aber mit diesen anspruchs¬
losen 40 Seiten, die hier im Schatten akademischer Sitzungsberichte ausgehoben
worden sind — begraben, beigesetzt, möchte man sagen —, wo schwerlich viele
Leute darnach suchen werden, ist der Kunstwissenschaft ein größerer Dienst er¬
wiesen als mit manchem dickleibigen Buche, das sich anspruchsvoll ans Licht
der Öffentlichkeit drangt. Es ist so kurze Zeit erst her, daß Springer alle
ernsteren Freunde der Kunstwissenschaft durch die reife und schöne Frucht seiner
Raffael- und Michelangelo-Studien erfreut hat, und er ist seitdem schon wieder so
emsig dabei gewesen, aus dem reichen Schatze seines Wissens anch den weitesten
Kreisen mit einer Liebenswürdigkeit, „von der niemand nichts weiß", zu spenden,
daß ihn wohl kaum jemand gleichzeitig auf den dornigen Pfaden der Quellen¬
erforschung mittelalterlicher Kunstdarstellungen vermuthet haben wird. Sicher¬
lich wird es den Lesern d. Bl. willkommen sein, wenn wir versuchen, im Nach¬
folgenden die interessanten Resultate der Springerschen Forschungen in Kürze
vorzulegen.

Springer zeigt, daß zahlreiche Bildmotive der mittelalterlichen Kunst zwar
schließlich in der Bibel wurzeln, ihre ganze Auffassung aber, ihre Anordnung
und ihr Zusammenhang so wesentlich verschieden von deu betreffenden biblischen
Stellen ist, daß wir unbedingt eine andere Quelle unmittelbarer Anregung und
Belehrung annehmen müssen, als die biblischen Schriften sie boten. Was die
Auffassung betrifft, so gehen z. B. die zahlreichen Thiergestalten, die einen
Hauptbestandtheil des frühmittelalterlichen Bilderkreises bilden, und in denen man
bis in die neueste Zeit herein seltsame Auswüchse einer phantastischen, dunkeln
Symbolik vermuthet hat, zum guten Theil auf Psalmstellen zurück, in denen
der Bilderstoff freilich nicht bestimmt abgegrenzt vorliegt, die die Phantasie des
Mittelalters sich aber in eine konkrete sinnliche Form umsetzte. Das weitver¬
breitete Bild Christi z. B., der auf dem Löwen und dem Otter geht und auf
den jungen Löwen und Drachen tritt, die Bilder, in denen Heilige auf Menschen
und Thiere wie auf einen Schemel ihre Füße legen, Löwen eine Menschengestalt
(die Seele) im Rachen gepackt halten u. ahnt., beruhen sämmtlich auf den poetischen
Vorstellungen von Psalmstellen, welche die lebendige Phantasie des Mittel¬
alters sich unmittelbar in Bilder verwandelte. Dieselbe Phantasie aber war
es, die in der Anordnung und Verbindung von Einzelgestalten, Gruppen und
Szenen weit über den biblischen Text hinausging. Durch das ganze Mittel¬
alter hindurch läßt sich die sogenannte „thpvlvgische" Auslegung der Bibel ver¬
folgen, die überall nach „Praefigurationen" sucht. -Anfangs beschränkte sich dieselbe
auf die Ergründung eines tieferen Sinnes, der hinter dem schlichten äußeren
Wortsinn lauschen soll; namentlich wird der Nachweis geführt, daß in Christus
nur erfüllt werde, was die Propheten des alten Bundes verheißen haben. All-


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[0226] (1879) und umfaßt im ganzen 40 Druckseiten. Aber mit diesen anspruchs¬ losen 40 Seiten, die hier im Schatten akademischer Sitzungsberichte ausgehoben worden sind — begraben, beigesetzt, möchte man sagen —, wo schwerlich viele Leute darnach suchen werden, ist der Kunstwissenschaft ein größerer Dienst er¬ wiesen als mit manchem dickleibigen Buche, das sich anspruchsvoll ans Licht der Öffentlichkeit drangt. Es ist so kurze Zeit erst her, daß Springer alle ernsteren Freunde der Kunstwissenschaft durch die reife und schöne Frucht seiner Raffael- und Michelangelo-Studien erfreut hat, und er ist seitdem schon wieder so emsig dabei gewesen, aus dem reichen Schatze seines Wissens anch den weitesten Kreisen mit einer Liebenswürdigkeit, „von der niemand nichts weiß", zu spenden, daß ihn wohl kaum jemand gleichzeitig auf den dornigen Pfaden der Quellen¬ erforschung mittelalterlicher Kunstdarstellungen vermuthet haben wird. Sicher¬ lich wird es den Lesern d. Bl. willkommen sein, wenn wir versuchen, im Nach¬ folgenden die interessanten Resultate der Springerschen Forschungen in Kürze vorzulegen. Springer zeigt, daß zahlreiche Bildmotive der mittelalterlichen Kunst zwar schließlich in der Bibel wurzeln, ihre ganze Auffassung aber, ihre Anordnung und ihr Zusammenhang so wesentlich verschieden von deu betreffenden biblischen Stellen ist, daß wir unbedingt eine andere Quelle unmittelbarer Anregung und Belehrung annehmen müssen, als die biblischen Schriften sie boten. Was die Auffassung betrifft, so gehen z. B. die zahlreichen Thiergestalten, die einen Hauptbestandtheil des frühmittelalterlichen Bilderkreises bilden, und in denen man bis in die neueste Zeit herein seltsame Auswüchse einer phantastischen, dunkeln Symbolik vermuthet hat, zum guten Theil auf Psalmstellen zurück, in denen der Bilderstoff freilich nicht bestimmt abgegrenzt vorliegt, die die Phantasie des Mittelalters sich aber in eine konkrete sinnliche Form umsetzte. Das weitver¬ breitete Bild Christi z. B., der auf dem Löwen und dem Otter geht und auf den jungen Löwen und Drachen tritt, die Bilder, in denen Heilige auf Menschen und Thiere wie auf einen Schemel ihre Füße legen, Löwen eine Menschengestalt (die Seele) im Rachen gepackt halten u. ahnt., beruhen sämmtlich auf den poetischen Vorstellungen von Psalmstellen, welche die lebendige Phantasie des Mittel¬ alters sich unmittelbar in Bilder verwandelte. Dieselbe Phantasie aber war es, die in der Anordnung und Verbindung von Einzelgestalten, Gruppen und Szenen weit über den biblischen Text hinausging. Durch das ganze Mittel¬ alter hindurch läßt sich die sogenannte „thpvlvgische" Auslegung der Bibel ver¬ folgen, die überall nach „Praefigurationen" sucht. -Anfangs beschränkte sich dieselbe auf die Ergründung eines tieferen Sinnes, der hinter dem schlichten äußeren Wortsinn lauschen soll; namentlich wird der Nachweis geführt, daß in Christus nur erfüllt werde, was die Propheten des alten Bundes verheißen haben. All-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/226>, abgerufen am 23.07.2024.