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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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ritterlichen Künstler zu diesen ihren Quellen gemacht hat! Was die Legende be¬
trifft, so schlägt wohl die Kunstwissenschaft, wenn es gilt, das Leben eines ein¬
zelnen Heiligen näher kennen zu lernen, um zu bestimmen, welche Ereignisse
desselben der Maler oder Bildhauer dargestellt hat, in modernen Heiligenbio-
graphieen uach oder zieht die ^.ota Lanotoruw des Laurentius Surius oder der
Bollcmdistm zu Rathe. Aber diese riesigen Kompilationen des 17. Jahr¬
hunderts geben doch nicht die naiven Legenden des Mittelalters, wie sie dem
gläubigen Volke, wie sie vor allem dem mitten im Volke stehenden schaffenden
Künstler bekannt und geläufig waren. Wer die Legenden in dieser unver¬
fälschten Form kennen lernen will, der muß ihre volksthümlichen poetischen
Bearbeitungen im Mittelalter aufsuchen. Zum ersten Male hat vor kurzem
Atom Schultz in Breslau mit der wichtigsten und zugleich anmuthigsten Legende
des Mittelalters, der Marienlegende, den Anfang zu einer derartigen BeHand¬
lungsweise gemacht.") Er hat aus Wernher's von Tegernsee Gedicht zu Ehren
der Jungfrau Maria, Philipps des Karthäusers "Marienleben", Konrads von
Fussesbrunn Gedicht von der Kindheit Jesu, Konrads von Heimesfurt "Himmel¬
fahrt Mariae", Walthers von Reinau "Marienleben", Peter Snchenwirths
Gedicht von den sieben Freuden der Maria und anderen volksthümlichen
Mariendichtungen des Mittelalters, die sämmtlich indirekt auf die apokryphen
Evangelien des Jakobus, des Pseudo-Matthaeus, des Thomas, des Nikodemus
zurückgehen, eine ausführliche Erzählung vom Leben der Jungfrau Maria zu¬
sammen- und dieser Erzählung dann eine Ikonographie des Marienlebens, zu¬
nächst mit Beschränkung auf die mittelalterliche Kunst, gegenübergestellt. Er
hat damit gezeigt, auf welchem Wege einmal zu einer umfassenden christlichen
Kunstmythologie zu gelangen sein wird, und zugleich einen ersten, werthvollen
Beitrag dazu gespendet, von dem man nur wünschen kann, daß er bald Nach¬
ahmung finden möge.

Wie aber hier Schultz den Weg gezeigt hat, um für die große Masse der
legendarischen mittelalterlichen Kunstdarstellungen zum richtigen Verständniß zu
gelangen, so hat Anton Springer neuerdings in einer kleinen, aber höchst
gehaltvollen Schrift endlich die unklaren Vorstellungen, die man bisher von der
Bibel als Quelle mittelalterlicher Kunstdarstellungen hatte, beseitigt und die
wahren, direkten Quellen, aus denen die Künstlerphantasie des Mittelalters
schöpfte, in überraschender Weise aufgedeckt. Die Arbeit, welche den Titel
führt: "Ueber die Quellen der Kunstdarstellungen im Mittelalter", ist
veröffentlicht in den "Berichten der K. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften"



*) Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria und ihre Darstellung in
der bildenden Kunst des Mittelalters, Von Atom Schultz. Leipzig, Seemann, 1873.
Die oben im Text angeführte Klage stammt aus dieser Schrift.
Grenzboten IV. 1879. 23

ritterlichen Künstler zu diesen ihren Quellen gemacht hat! Was die Legende be¬
trifft, so schlägt wohl die Kunstwissenschaft, wenn es gilt, das Leben eines ein¬
zelnen Heiligen näher kennen zu lernen, um zu bestimmen, welche Ereignisse
desselben der Maler oder Bildhauer dargestellt hat, in modernen Heiligenbio-
graphieen uach oder zieht die ^.ota Lanotoruw des Laurentius Surius oder der
Bollcmdistm zu Rathe. Aber diese riesigen Kompilationen des 17. Jahr¬
hunderts geben doch nicht die naiven Legenden des Mittelalters, wie sie dem
gläubigen Volke, wie sie vor allem dem mitten im Volke stehenden schaffenden
Künstler bekannt und geläufig waren. Wer die Legenden in dieser unver¬
fälschten Form kennen lernen will, der muß ihre volksthümlichen poetischen
Bearbeitungen im Mittelalter aufsuchen. Zum ersten Male hat vor kurzem
Atom Schultz in Breslau mit der wichtigsten und zugleich anmuthigsten Legende
des Mittelalters, der Marienlegende, den Anfang zu einer derartigen BeHand¬
lungsweise gemacht.") Er hat aus Wernher's von Tegernsee Gedicht zu Ehren
der Jungfrau Maria, Philipps des Karthäusers „Marienleben", Konrads von
Fussesbrunn Gedicht von der Kindheit Jesu, Konrads von Heimesfurt „Himmel¬
fahrt Mariae", Walthers von Reinau „Marienleben", Peter Snchenwirths
Gedicht von den sieben Freuden der Maria und anderen volksthümlichen
Mariendichtungen des Mittelalters, die sämmtlich indirekt auf die apokryphen
Evangelien des Jakobus, des Pseudo-Matthaeus, des Thomas, des Nikodemus
zurückgehen, eine ausführliche Erzählung vom Leben der Jungfrau Maria zu¬
sammen- und dieser Erzählung dann eine Ikonographie des Marienlebens, zu¬
nächst mit Beschränkung auf die mittelalterliche Kunst, gegenübergestellt. Er
hat damit gezeigt, auf welchem Wege einmal zu einer umfassenden christlichen
Kunstmythologie zu gelangen sein wird, und zugleich einen ersten, werthvollen
Beitrag dazu gespendet, von dem man nur wünschen kann, daß er bald Nach¬
ahmung finden möge.

Wie aber hier Schultz den Weg gezeigt hat, um für die große Masse der
legendarischen mittelalterlichen Kunstdarstellungen zum richtigen Verständniß zu
gelangen, so hat Anton Springer neuerdings in einer kleinen, aber höchst
gehaltvollen Schrift endlich die unklaren Vorstellungen, die man bisher von der
Bibel als Quelle mittelalterlicher Kunstdarstellungen hatte, beseitigt und die
wahren, direkten Quellen, aus denen die Künstlerphantasie des Mittelalters
schöpfte, in überraschender Weise aufgedeckt. Die Arbeit, welche den Titel
führt: „Ueber die Quellen der Kunstdarstellungen im Mittelalter", ist
veröffentlicht in den „Berichten der K. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften"



*) Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria und ihre Darstellung in
der bildenden Kunst des Mittelalters, Von Atom Schultz. Leipzig, Seemann, 1873.
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Grenzboten IV. 1879. 23
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[0225] ritterlichen Künstler zu diesen ihren Quellen gemacht hat! Was die Legende be¬ trifft, so schlägt wohl die Kunstwissenschaft, wenn es gilt, das Leben eines ein¬ zelnen Heiligen näher kennen zu lernen, um zu bestimmen, welche Ereignisse desselben der Maler oder Bildhauer dargestellt hat, in modernen Heiligenbio- graphieen uach oder zieht die ^.ota Lanotoruw des Laurentius Surius oder der Bollcmdistm zu Rathe. Aber diese riesigen Kompilationen des 17. Jahr¬ hunderts geben doch nicht die naiven Legenden des Mittelalters, wie sie dem gläubigen Volke, wie sie vor allem dem mitten im Volke stehenden schaffenden Künstler bekannt und geläufig waren. Wer die Legenden in dieser unver¬ fälschten Form kennen lernen will, der muß ihre volksthümlichen poetischen Bearbeitungen im Mittelalter aufsuchen. Zum ersten Male hat vor kurzem Atom Schultz in Breslau mit der wichtigsten und zugleich anmuthigsten Legende des Mittelalters, der Marienlegende, den Anfang zu einer derartigen BeHand¬ lungsweise gemacht.") Er hat aus Wernher's von Tegernsee Gedicht zu Ehren der Jungfrau Maria, Philipps des Karthäusers „Marienleben", Konrads von Fussesbrunn Gedicht von der Kindheit Jesu, Konrads von Heimesfurt „Himmel¬ fahrt Mariae", Walthers von Reinau „Marienleben", Peter Snchenwirths Gedicht von den sieben Freuden der Maria und anderen volksthümlichen Mariendichtungen des Mittelalters, die sämmtlich indirekt auf die apokryphen Evangelien des Jakobus, des Pseudo-Matthaeus, des Thomas, des Nikodemus zurückgehen, eine ausführliche Erzählung vom Leben der Jungfrau Maria zu¬ sammen- und dieser Erzählung dann eine Ikonographie des Marienlebens, zu¬ nächst mit Beschränkung auf die mittelalterliche Kunst, gegenübergestellt. Er hat damit gezeigt, auf welchem Wege einmal zu einer umfassenden christlichen Kunstmythologie zu gelangen sein wird, und zugleich einen ersten, werthvollen Beitrag dazu gespendet, von dem man nur wünschen kann, daß er bald Nach¬ ahmung finden möge. Wie aber hier Schultz den Weg gezeigt hat, um für die große Masse der legendarischen mittelalterlichen Kunstdarstellungen zum richtigen Verständniß zu gelangen, so hat Anton Springer neuerdings in einer kleinen, aber höchst gehaltvollen Schrift endlich die unklaren Vorstellungen, die man bisher von der Bibel als Quelle mittelalterlicher Kunstdarstellungen hatte, beseitigt und die wahren, direkten Quellen, aus denen die Künstlerphantasie des Mittelalters schöpfte, in überraschender Weise aufgedeckt. Die Arbeit, welche den Titel führt: „Ueber die Quellen der Kunstdarstellungen im Mittelalter", ist veröffentlicht in den „Berichten der K. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften" *) Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria und ihre Darstellung in der bildenden Kunst des Mittelalters, Von Atom Schultz. Leipzig, Seemann, 1873. Die oben im Text angeführte Klage stammt aus dieser Schrift. Grenzboten IV. 1879. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/225>, abgerufen am 23.07.2024.