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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Mit ihm schließt diese Periode ab. Zehn Jahre feiert Mörike als Erzähler.
Als er uns wieder begegnet, ist es auf der Spur von Goethes "Hermann und
Dorothea". Die Wandlung, welche sich inzwischen mit ihm vollzogen, spiegelt
sich in der fruchtbaren lyrischen Produktion dieser Jahre. Die romantische
Periode wird von einer nach Klassizität strebenden abgelöst. Es ist Goethes
mustergiltige Entwickelung, die sich hier in bescheidenem Maßstabe wiederholt.

Mörikes "Idylle vom Bodensee" (1846) ist seit Hermann und Dorothea
der erste nennenswerthe Versuch, ein Stück deutschen Volkslebens im Geiste
der Antike episch zu gestalten. Schon dieser Versuch hätte die allgemeinste Be¬
achtung verdient. Und in einem Gesänge, im fünften, hat der Dichter sein Ziel
vollkommen erreicht. Diese Liebesszene, so ganz individuell und doch so völlig
in die Region reiner Schönheit erhoben, erinnert in der That an die beste Zeit
unserer Literatur. Im Uebrigen hat sich allerdings der Dichter über die Be¬
deutung seines Stoffes getäuscht. Vor allem fehlt dem Hauptschwank -- er
ist nach der Oekonomie des Gedichts Episode -- die unwiderstehliche komische
Kraft. Lustig genug, aber zu programmmäßig verläuft Martes Anschlag, ohne
Hinderniß, ohne Kampf. Kaum ein Ansatz dazu ist vorhanden. Erst spielt
sich der Uebermuth der Dorfjugend, dann spielt sich der Schrecken der Be¬
troffenen ab. Es fehlt ein Zusammenstoß, ein Brennpunkt und darum das
genügende Interesse. Höher steht in dieser Hinsicht der Schwank mit den
Schneidern, deren Enttäuschung und nächtliches Zusammentreffen mit Marte
eine auch dramatisch wirksame Szene liefert. Das aus der Verschlingung
beider Schwänke entspringende auffallende Mißverhältnis der Komposition ist
immer und vielleicht zu pedantisch hervorgehoben worden.

An Einzelschönheiten ist die Idylle reich. Der Bodensee steht hinter dem
Ganzen als weiter duftiger Hintergrund, und trefflich ist er im Einzelnen ver¬
werthet. Diese Menschen leben und weben an und auf dem See. Schön und
eigenartig ist der episodischen Handlung eine doppelte Lösung, ein doppelter
Schluß gegeben, neben dem derben Schwank die gemüthvolle Liebesidylle. Der
Uebermuth bei aller Ausgelassenheit kennt seine Grenzen, und diese Mäßigung,
die ein gebildetes Gefühl verlangt, ist doch wieder vollkommen motivirt durch
den Charakter des "sinnigen Fischers" mit seinem Anflug höherer Bildung.
Eine prächtige Gestalt ist Käthe, rührend der blinde, halbtaube Greis. Was
aber dies Gedicht vor allem auszeichnet, ist die Virtuosität in der epischen
Schilderung und im homerischen Gleichniß. Hier ist mehr als Parodie des
"göttlichen Alten". Hier ist homerischer Geist. Wie jene naiven lebens¬
froher Jonier weiß der Dichter dem Alltagsleben Poesie abzugewinnen und
sie uns mit echt epischem Behagen in dem anschaulichen Detail seiner Bilder
vor Augen zu stellen. Kabinetstücke dieser Art sind z. B. die Schilderung des


Grenzboten IV. 1879. 24

Mit ihm schließt diese Periode ab. Zehn Jahre feiert Mörike als Erzähler.
Als er uns wieder begegnet, ist es auf der Spur von Goethes „Hermann und
Dorothea". Die Wandlung, welche sich inzwischen mit ihm vollzogen, spiegelt
sich in der fruchtbaren lyrischen Produktion dieser Jahre. Die romantische
Periode wird von einer nach Klassizität strebenden abgelöst. Es ist Goethes
mustergiltige Entwickelung, die sich hier in bescheidenem Maßstabe wiederholt.

Mörikes „Idylle vom Bodensee" (1846) ist seit Hermann und Dorothea
der erste nennenswerthe Versuch, ein Stück deutschen Volkslebens im Geiste
der Antike episch zu gestalten. Schon dieser Versuch hätte die allgemeinste Be¬
achtung verdient. Und in einem Gesänge, im fünften, hat der Dichter sein Ziel
vollkommen erreicht. Diese Liebesszene, so ganz individuell und doch so völlig
in die Region reiner Schönheit erhoben, erinnert in der That an die beste Zeit
unserer Literatur. Im Uebrigen hat sich allerdings der Dichter über die Be¬
deutung seines Stoffes getäuscht. Vor allem fehlt dem Hauptschwank — er
ist nach der Oekonomie des Gedichts Episode — die unwiderstehliche komische
Kraft. Lustig genug, aber zu programmmäßig verläuft Martes Anschlag, ohne
Hinderniß, ohne Kampf. Kaum ein Ansatz dazu ist vorhanden. Erst spielt
sich der Uebermuth der Dorfjugend, dann spielt sich der Schrecken der Be¬
troffenen ab. Es fehlt ein Zusammenstoß, ein Brennpunkt und darum das
genügende Interesse. Höher steht in dieser Hinsicht der Schwank mit den
Schneidern, deren Enttäuschung und nächtliches Zusammentreffen mit Marte
eine auch dramatisch wirksame Szene liefert. Das aus der Verschlingung
beider Schwänke entspringende auffallende Mißverhältnis der Komposition ist
immer und vielleicht zu pedantisch hervorgehoben worden.

An Einzelschönheiten ist die Idylle reich. Der Bodensee steht hinter dem
Ganzen als weiter duftiger Hintergrund, und trefflich ist er im Einzelnen ver¬
werthet. Diese Menschen leben und weben an und auf dem See. Schön und
eigenartig ist der episodischen Handlung eine doppelte Lösung, ein doppelter
Schluß gegeben, neben dem derben Schwank die gemüthvolle Liebesidylle. Der
Uebermuth bei aller Ausgelassenheit kennt seine Grenzen, und diese Mäßigung,
die ein gebildetes Gefühl verlangt, ist doch wieder vollkommen motivirt durch
den Charakter des „sinnigen Fischers" mit seinem Anflug höherer Bildung.
Eine prächtige Gestalt ist Käthe, rührend der blinde, halbtaube Greis. Was
aber dies Gedicht vor allem auszeichnet, ist die Virtuosität in der epischen
Schilderung und im homerischen Gleichniß. Hier ist mehr als Parodie des
„göttlichen Alten". Hier ist homerischer Geist. Wie jene naiven lebens¬
froher Jonier weiß der Dichter dem Alltagsleben Poesie abzugewinnen und
sie uns mit echt epischem Behagen in dem anschaulichen Detail seiner Bilder
vor Augen zu stellen. Kabinetstücke dieser Art sind z. B. die Schilderung des


Grenzboten IV. 1879. 24
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/185>, abgerufen am 26.08.2024.