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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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erquicken", so braucht man diesen Satz nur umzukehren, um Mörikes Poesie zu
charakterisiren. Klopstocks musikalischer Poesie gegenüber, wie Schiller sie
nennt, ist Mörike ein eminent plastischer Dichter.

Das Buch, mit welchem Mörike in die schriftstellerische Laufbahn eintrat,
war der Roman "Maler Rollen" (1832). Was wir in der neuen Ausgabe
seiner Schriften lesen, ist nicht die ursprüngliche Gestalt des Buches, sondern
die Bearbeitung, welche Mörike fast vollendet hinterlassen und Julius Klaiber
pietätvoll zu Ende geführt hat. Aber auch noch in seiner heutigen Gestalt
verleugnet der Roman nicht, daß er in den 30 er oder richtiger in den 20 er
Jahren des Jahrhunderts wurzelt.

In dem Buche waltet eine unheimliche Tragik, welche einen inneren und
ohne Zweifel auch literarhistorischen Zusammenhang mit der Schicksalstragödie
hat. Der Einfluß der Goethischen Romane ist unverkennbar, insbesondere
drängt sich die Begleichung mit den Wahlverwandtschaften, zumal hinsichtlich
des tragischen Schicksals der Personen, auf. Nicht zu Gunsten des "Rollen".
Auch die Tragik der Wahlverwandtschaften ist keine befreiende, sondern eine
beängstigende. Aber wenn es hier die handelnden Personen unwiderstehlich ins
Verderben zieht, wie den Schmetterling in die Flamme, so zuckt im "Rollen"
das Verderben wie eine Schlange hervor, lauernd, heimtückisch. Die düstere
Stimmung des Buches, die dem Wesen des Dichters so fremd zu sein scheint,
kehrt in manchen seiner Jugendgedichte wieder, und es kann dem, der näher
zusieht, nicht entgehen, daß hier erlebte Stimmungen nachklingen.

Die Motivirung zeigt vielfach und gerade an den entscheidenden Punkten
große Schwächen. Ich erinnere an die UnWahrscheinlichkeit des von Rollen
abgebrochenen, von Larkens unter des Freundes Maske fortgeführten Brief¬
wechsels mit Agnes, ich erinnere an den Selbstmord Larkens', der gerade
in dem Augenblicke verzweifelt, wo es ihm gelungen ist, die Verlobten einander
Wiederzugeben, ich erinnere an Agnes' räthselhafte Verzögerung der Hochzeit.
Wie an dem ersten dieser Punkte die ganze Verwickelung, so hängt an den
letzten beiden die Katastrophe des Romans.

Ueberdies ist die Komposition locker, die Handlung stockt, das Interesse
bleibt unaufhörlich im Detail hängen. Diese unbestreitbaren Mängel sind es,
welche der Popularität des Buches im Wege stehen. Dem gegenüber liegt sein
Werth heute so gut wie damals, als es Bischer sieben Jahre nach dem ersten
Erscheinen aus dem Dunkel hervorzog, in dem Schatz von Poesie, den es ent¬
hält. Im Detail, in der Ausmalung der Situationen, zum Theil in den
Episoden liegt die Schönheit des Romans. Das Hauptinteresse ist ein psycho¬
logisches. In der Zergliederung von Agnes' Seelenzustand geht der Dichter
vielleicht zu weit, meisterhaft aber ist ihr Wahnsinn, meisterhaft der Zustand


erquicken", so braucht man diesen Satz nur umzukehren, um Mörikes Poesie zu
charakterisiren. Klopstocks musikalischer Poesie gegenüber, wie Schiller sie
nennt, ist Mörike ein eminent plastischer Dichter.

Das Buch, mit welchem Mörike in die schriftstellerische Laufbahn eintrat,
war der Roman „Maler Rollen" (1832). Was wir in der neuen Ausgabe
seiner Schriften lesen, ist nicht die ursprüngliche Gestalt des Buches, sondern
die Bearbeitung, welche Mörike fast vollendet hinterlassen und Julius Klaiber
pietätvoll zu Ende geführt hat. Aber auch noch in seiner heutigen Gestalt
verleugnet der Roman nicht, daß er in den 30 er oder richtiger in den 20 er
Jahren des Jahrhunderts wurzelt.

In dem Buche waltet eine unheimliche Tragik, welche einen inneren und
ohne Zweifel auch literarhistorischen Zusammenhang mit der Schicksalstragödie
hat. Der Einfluß der Goethischen Romane ist unverkennbar, insbesondere
drängt sich die Begleichung mit den Wahlverwandtschaften, zumal hinsichtlich
des tragischen Schicksals der Personen, auf. Nicht zu Gunsten des „Rollen".
Auch die Tragik der Wahlverwandtschaften ist keine befreiende, sondern eine
beängstigende. Aber wenn es hier die handelnden Personen unwiderstehlich ins
Verderben zieht, wie den Schmetterling in die Flamme, so zuckt im „Rollen"
das Verderben wie eine Schlange hervor, lauernd, heimtückisch. Die düstere
Stimmung des Buches, die dem Wesen des Dichters so fremd zu sein scheint,
kehrt in manchen seiner Jugendgedichte wieder, und es kann dem, der näher
zusieht, nicht entgehen, daß hier erlebte Stimmungen nachklingen.

Die Motivirung zeigt vielfach und gerade an den entscheidenden Punkten
große Schwächen. Ich erinnere an die UnWahrscheinlichkeit des von Rollen
abgebrochenen, von Larkens unter des Freundes Maske fortgeführten Brief¬
wechsels mit Agnes, ich erinnere an den Selbstmord Larkens', der gerade
in dem Augenblicke verzweifelt, wo es ihm gelungen ist, die Verlobten einander
Wiederzugeben, ich erinnere an Agnes' räthselhafte Verzögerung der Hochzeit.
Wie an dem ersten dieser Punkte die ganze Verwickelung, so hängt an den
letzten beiden die Katastrophe des Romans.

Ueberdies ist die Komposition locker, die Handlung stockt, das Interesse
bleibt unaufhörlich im Detail hängen. Diese unbestreitbaren Mängel sind es,
welche der Popularität des Buches im Wege stehen. Dem gegenüber liegt sein
Werth heute so gut wie damals, als es Bischer sieben Jahre nach dem ersten
Erscheinen aus dem Dunkel hervorzog, in dem Schatz von Poesie, den es ent¬
hält. Im Detail, in der Ausmalung der Situationen, zum Theil in den
Episoden liegt die Schönheit des Romans. Das Hauptinteresse ist ein psycho¬
logisches. In der Zergliederung von Agnes' Seelenzustand geht der Dichter
vielleicht zu weit, meisterhaft aber ist ihr Wahnsinn, meisterhaft der Zustand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/183>, abgerufen am 26.08.2024.