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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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und die nächste Außenwelt in ihren kleinsten Erscheinungen diese Benennung
verdiente". Jedes gleichgiltige Ding, ein Stein, ein Holz, (auch der Thurm¬
hahn wird uns schon genannt), nahm ihm in dieser "Zeit des Brütens"
Physiognomie an, hegte ihm ein verborgenes Leben. In solchen Stellen aus
Mörikes "Maler Rollen" ist jedes Wort von Bedeutung, in ihnen portrütirt
der Dichter sich selbst. Besonders wichtig aber ist uns, was er von seiner
Knabenzeit berichtet. Denn ohne Zweifel ist dies für ihn die eigentlich ent¬
scheidende Lebensperiode gewesen. Wie es Jünglingsnaturen unter den Dichtern
gibt, so ist Mörike Zeit seines Lebens ein Kind geblieben. Er hat sich durch
alle Lebensschicksale hindurch den Frieden und die Heiterkeit, die Weltfremdheit
und die Unbefangenheit des Kindes bewahrt; seinem Geiste haben jene Knaben¬
jahre die beharrliche Form gegeben. Schien er im Drange des Jünglings¬
alters diese Form zu sprengen, so zog er sich als Mann auf sie als auf seine
natürliche Grenze zurück. Der Jüngling war des Knaben nicht Meister ge¬
worden. Es sind die Eigenschaften des Knaben, die auch den Mann, den
Dichter charakterisiren: die Beschaulichkeit, die Innigkeit, die Richtung auf das
Kleine, die rege Phantasie, der Humor -- denn auch dieser gab sich schon in
den originellen Schelmereien des Knaben kund. Auch Mörikes Glaube an
Träume, Vorbedeutungen, Sympathiewirkung, seine Neigung zum Spiritismus,
kurz all der kindliche Aberglaube, den er wie "Freund Kerner" bei sich be¬
herbergte, setzt nur den "unschuldigen Mystizismus des Knabenalters" fort. Er
beruht auf einem Uebergewicht der Phantasie über den Verstand, des Kindes
über den Mann.

Mörikes Grundstimmung ist die Beschaulichkeit. Dabei darf man nicht
an Neigung zur Reflexion, zur Abstraktion denken. Gerade auf das Konkrete,
auf das Individuelle geht sein Sinn. Seine Beschaulichkeit ist vor allem
eigentliches Schauen, lebhafte, naive Hingabe an Form, Farbe, Klang. Und
Mörike war ausgestattet mit dem Ohre des Musikers, mit dem Auge des Malers,
mit einem "unvergleichlichen Talent humoristischer Mimik", also der Gabe
scharfer Beobachtung. Seine Beschaulichkeit ist sodann innige, liebevolle Ver¬
tiefung in die Dinge, die reine uninteresstrte Freude eines tiefen Gemüths
an allem individuellen Leben, an jeder charakteristischen Erscheinung. Sie ist
endlich Phantasiethätigkeit, die sich schon in die Wahrnehmung unmittelbar ein¬
mischt, das Geschaute individualisirend, versonifizirend, das Erlauschte ausdeu¬
tend, die aber zur freiesten Schöpfung fortschreitet, Mythen bildet und Märchen
erfindet. Die Natur, die nächste Umgebung, das war der Kreis, aus dem Mörikes
Poesie stammte, und sie hat ihre Heimat nie verleugnet. Aber bald wandte
der Dichter den liebevollen Blick, die verständnißvolle Theilnahme, die er dort
zuerst geübt, auch dem menschlichen Leben zu. Beides gehört ihm nah zu-


und die nächste Außenwelt in ihren kleinsten Erscheinungen diese Benennung
verdiente". Jedes gleichgiltige Ding, ein Stein, ein Holz, (auch der Thurm¬
hahn wird uns schon genannt), nahm ihm in dieser „Zeit des Brütens"
Physiognomie an, hegte ihm ein verborgenes Leben. In solchen Stellen aus
Mörikes „Maler Rollen" ist jedes Wort von Bedeutung, in ihnen portrütirt
der Dichter sich selbst. Besonders wichtig aber ist uns, was er von seiner
Knabenzeit berichtet. Denn ohne Zweifel ist dies für ihn die eigentlich ent¬
scheidende Lebensperiode gewesen. Wie es Jünglingsnaturen unter den Dichtern
gibt, so ist Mörike Zeit seines Lebens ein Kind geblieben. Er hat sich durch
alle Lebensschicksale hindurch den Frieden und die Heiterkeit, die Weltfremdheit
und die Unbefangenheit des Kindes bewahrt; seinem Geiste haben jene Knaben¬
jahre die beharrliche Form gegeben. Schien er im Drange des Jünglings¬
alters diese Form zu sprengen, so zog er sich als Mann auf sie als auf seine
natürliche Grenze zurück. Der Jüngling war des Knaben nicht Meister ge¬
worden. Es sind die Eigenschaften des Knaben, die auch den Mann, den
Dichter charakterisiren: die Beschaulichkeit, die Innigkeit, die Richtung auf das
Kleine, die rege Phantasie, der Humor — denn auch dieser gab sich schon in
den originellen Schelmereien des Knaben kund. Auch Mörikes Glaube an
Träume, Vorbedeutungen, Sympathiewirkung, seine Neigung zum Spiritismus,
kurz all der kindliche Aberglaube, den er wie „Freund Kerner" bei sich be¬
herbergte, setzt nur den „unschuldigen Mystizismus des Knabenalters" fort. Er
beruht auf einem Uebergewicht der Phantasie über den Verstand, des Kindes
über den Mann.

Mörikes Grundstimmung ist die Beschaulichkeit. Dabei darf man nicht
an Neigung zur Reflexion, zur Abstraktion denken. Gerade auf das Konkrete,
auf das Individuelle geht sein Sinn. Seine Beschaulichkeit ist vor allem
eigentliches Schauen, lebhafte, naive Hingabe an Form, Farbe, Klang. Und
Mörike war ausgestattet mit dem Ohre des Musikers, mit dem Auge des Malers,
mit einem „unvergleichlichen Talent humoristischer Mimik", also der Gabe
scharfer Beobachtung. Seine Beschaulichkeit ist sodann innige, liebevolle Ver¬
tiefung in die Dinge, die reine uninteresstrte Freude eines tiefen Gemüths
an allem individuellen Leben, an jeder charakteristischen Erscheinung. Sie ist
endlich Phantasiethätigkeit, die sich schon in die Wahrnehmung unmittelbar ein¬
mischt, das Geschaute individualisirend, versonifizirend, das Erlauschte ausdeu¬
tend, die aber zur freiesten Schöpfung fortschreitet, Mythen bildet und Märchen
erfindet. Die Natur, die nächste Umgebung, das war der Kreis, aus dem Mörikes
Poesie stammte, und sie hat ihre Heimat nie verleugnet. Aber bald wandte
der Dichter den liebevollen Blick, die verständnißvolle Theilnahme, die er dort
zuerst geübt, auch dem menschlichen Leben zu. Beides gehört ihm nah zu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/180>, abgerufen am 01.09.2024.