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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Meisterstrichen gezeichnet"), fast doppelt so lange kannte ',er ihn, und noch schien
es ihm der Mühe werth, von ihm zu lernen. Etwas von dieser Gesinnung
möchte man denen wünschen, die den Dichter einmal da oder dort aufschlagen,
einmal anblättern, um ihn dann auf immer wegzulegen.

Zwar wer gleich die rechte Stelle aufgeschlagen, wem einmal der "alte
Thurmhahn" das Herz gestohlen hätte, den würde der Dichter so leicht nicht
wieder loslassen. Und so mag auch uns dies Gedicht der Weg zu der Sinnes¬
weise, zu dem Herzen des Dichters werden. Zu umfangreich für unsere land¬
läufigen Anthologien, zu klein um für sich seinen Weg zu gehen, ist es weiteren
Kreisen nur etwa durch Ludwig Richters Illustration oder Storms "Haushund"
bekannt und dann freilich aufs beste empfohlen. Einem Thurmhahn, den man
nach 113jähriger Dienstzeit abgesetzt, hat der Pfarrer einen Ruhesitz auf feinem
Ofen gegönnt. Da spinnt er nun seine Tage hin, und er erzählt uns, wie
wohl ihm ist im Frieden dieser vier Wände. Die Anschaulichkeit und Plastik
der Schilderungen, das nahe, warme Verhältniß des Dichters zu den Dingen,
der glücklichste Humor und vor allem die innige Versenkung in den Charakter
des Thurmhahns, aus welcher allein diese Fülle origineller Motive entspringen
konnte, Alles verkörpert in der individuellsten Sprache, in den treuherzigsten
Knittelversen -- es ist ein Ganzes, so eigenartig, so in sich vollendet, daß ich
ihm nichts an die Seite zu setzen weiß. Die Ueberfülle des Details, sonst eine
Schwäche Mörikes, ist hier Vollkommenheit. Beschaulichkeit, Redseligkeit ziemt
dem Alter und dem Ruhestand. Wie klein ist die Welt dieses Gedichts! Feder¬
messer, Oblatenschachtel, Amtssigill -- die elendesten Siebensachen; und wenn
der Dichter ein Streifchen Sonne darauf fallen läßt -- das lautere Gold.

Daß gerade ein solches Gedicht zum Allerbesten gehört, was Mörike ge¬
schrieben hat, ist kein Zufall. Mörike ist eben im Kleinen am größten. Enge,
Beschränkung bedeuten für ihn enge, heimliche Seligkeit, wie im Leben, so in
der Poesie. Sein Leben verlief in stiller Zurückgezogenheit, in der Heimat,
im Hause. Er ist über Schwaben nicht weit hinausgekommen. 1804 zu Lud¬
wigsburg geboren, hat er eine äußerst glückliche Jugend verlebt, bis zum 12.
Jahre im Vaterhause, nach dem Tode des Vaters, eines angesehenen Arztes,
zwei Jahre in Stuttgart, dann in Urach im niederen Seminar. 1822 trat er in
das Tübinger Stift über, wo er hauptsächlich dem Studium der alten und
neuen Dichter lebte. In Urach entfaltete sich unter den Eindrücken einer



1847 in dem Aufsatze über Ludwig Bauer (Geh. Sehr. 2, S. 1S9 ff). Ausgeführte"
Darstellungen von Mörikes Leben und Dichtung geben Fr. Roller: Ed. Mörike (Stuttgart,
Auerbach, 187S) und Jul. Klaibe" Ed. Mörike (ebenda, 1376). Als Freunde des
Dichters schöpfe" sie Beide ihre Gesammtanschauung und manchen charakteristischen Zug aus
unmittelbarer Kenntniß.

Meisterstrichen gezeichnet"), fast doppelt so lange kannte ',er ihn, und noch schien
es ihm der Mühe werth, von ihm zu lernen. Etwas von dieser Gesinnung
möchte man denen wünschen, die den Dichter einmal da oder dort aufschlagen,
einmal anblättern, um ihn dann auf immer wegzulegen.

Zwar wer gleich die rechte Stelle aufgeschlagen, wem einmal der „alte
Thurmhahn" das Herz gestohlen hätte, den würde der Dichter so leicht nicht
wieder loslassen. Und so mag auch uns dies Gedicht der Weg zu der Sinnes¬
weise, zu dem Herzen des Dichters werden. Zu umfangreich für unsere land¬
läufigen Anthologien, zu klein um für sich seinen Weg zu gehen, ist es weiteren
Kreisen nur etwa durch Ludwig Richters Illustration oder Storms „Haushund"
bekannt und dann freilich aufs beste empfohlen. Einem Thurmhahn, den man
nach 113jähriger Dienstzeit abgesetzt, hat der Pfarrer einen Ruhesitz auf feinem
Ofen gegönnt. Da spinnt er nun seine Tage hin, und er erzählt uns, wie
wohl ihm ist im Frieden dieser vier Wände. Die Anschaulichkeit und Plastik
der Schilderungen, das nahe, warme Verhältniß des Dichters zu den Dingen,
der glücklichste Humor und vor allem die innige Versenkung in den Charakter
des Thurmhahns, aus welcher allein diese Fülle origineller Motive entspringen
konnte, Alles verkörpert in der individuellsten Sprache, in den treuherzigsten
Knittelversen — es ist ein Ganzes, so eigenartig, so in sich vollendet, daß ich
ihm nichts an die Seite zu setzen weiß. Die Ueberfülle des Details, sonst eine
Schwäche Mörikes, ist hier Vollkommenheit. Beschaulichkeit, Redseligkeit ziemt
dem Alter und dem Ruhestand. Wie klein ist die Welt dieses Gedichts! Feder¬
messer, Oblatenschachtel, Amtssigill — die elendesten Siebensachen; und wenn
der Dichter ein Streifchen Sonne darauf fallen läßt — das lautere Gold.

Daß gerade ein solches Gedicht zum Allerbesten gehört, was Mörike ge¬
schrieben hat, ist kein Zufall. Mörike ist eben im Kleinen am größten. Enge,
Beschränkung bedeuten für ihn enge, heimliche Seligkeit, wie im Leben, so in
der Poesie. Sein Leben verlief in stiller Zurückgezogenheit, in der Heimat,
im Hause. Er ist über Schwaben nicht weit hinausgekommen. 1804 zu Lud¬
wigsburg geboren, hat er eine äußerst glückliche Jugend verlebt, bis zum 12.
Jahre im Vaterhause, nach dem Tode des Vaters, eines angesehenen Arztes,
zwei Jahre in Stuttgart, dann in Urach im niederen Seminar. 1822 trat er in
das Tübinger Stift über, wo er hauptsächlich dem Studium der alten und
neuen Dichter lebte. In Urach entfaltete sich unter den Eindrücken einer



1847 in dem Aufsatze über Ludwig Bauer (Geh. Sehr. 2, S. 1S9 ff). Ausgeführte«
Darstellungen von Mörikes Leben und Dichtung geben Fr. Roller: Ed. Mörike (Stuttgart,
Auerbach, 187S) und Jul. Klaibe« Ed. Mörike (ebenda, 1376). Als Freunde des
Dichters schöpfe» sie Beide ihre Gesammtanschauung und manchen charakteristischen Zug aus
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/178>, abgerufen am 27.07.2024.