Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.das göttliche Wort, aus dem diese beiden ein Wachsthum ihrer Kraft zu erwarten In neuester Zeit ist dieser Traktat von zwei Forschern auf dem Gebiete Auf diesen Angriff haben wir folgendes zu erwiedern. Erstens, daß man *) a. a, O. S, 191-193,
das göttliche Wort, aus dem diese beiden ein Wachsthum ihrer Kraft zu erwarten In neuester Zeit ist dieser Traktat von zwei Forschern auf dem Gebiete Auf diesen Angriff haben wir folgendes zu erwiedern. Erstens, daß man *) a. a, O. S, 191-193,
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0144" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143199"/> <p xml:id="ID_446" prev="#ID_445"> das göttliche Wort, aus dem diese beiden ein Wachsthum ihrer Kraft zu erwarten<lb/> haben. Der gute Mensch thut gute Werke, aber gute Werke machen nicht den<lb/> Menschen gut. Das zweite Motiv der Thätigkeit ergibt sich aus der Verpflich¬<lb/> tung zum Gemeinschaftsleben. Wir sollen uns derselben nicht entziehen, viel¬<lb/> mehr in sie eintreten in dienender, selbstverleugnender Liebe. Wir sollen nicht<lb/> müßig verharren in der uns voll sättigenden und beseligenden Liebesgemeinschaft<lb/> mit Gott, sondern von dieser Höhe hinabsteigen zu der Bedürftigkeit unsers<lb/> Nächste», um ihr zu helfen. Was wir von Christus empfangen haben, sollen<lb/> wir dem Nächsten geben, und so ein jeder des andern Christus werden. Von<lb/> hier aus findet der Traktat schließlich auch den Weg zu reformatorischen<lb/> Gedanken, indem diese Werke der Liebe zum Maßstabe genommen werden, um<lb/> den Werth der von der katholischen Kirche empfohlenen Werke zu erkennen,<lb/> und indem die Frage erörtert wird, wie sich die christliche Freiheit gegenüber<lb/> den Ceremonieen der römischen Kirche zu bewähren habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_447"> In neuester Zeit ist dieser Traktat von zwei Forschern auf dem Gebiete<lb/> der reformatorischen Theologie stark in Anspruch genommen worden. Hering*)<lb/> findet bei aller Anerkennung der hohen ethischen Bedeutsamkeit der Schrift, daß<lb/> sie einen mystischen Idealismus verrathe, der sich einmal darin zeige, daß nicht<lb/> zur Geltung gebracht werde, wie der Christ immer unter dem die Liebe mit<lb/> einschließenden Gebote Gottes steht und auch sein freies Wirken in dieser Hinsicht<lb/> nur Gehorsam ist; sodann, insofern sie den Gehorsam gegen die Obrigkeit aus¬<lb/> schließlich aus der sich akkommodirenden Liebe ableite, die den Schwachen nicht<lb/> Aergerniß geben will. In wesentlicher Uebereinstimmung mit dieser Ausfassung<lb/> des Traktats befindet sich L o in matzschin dem soeben erschienenen umfangreichen<lb/> Werke: „Luthers Lehre vom ethisch-religiösen Standpunkte aus und mit be¬<lb/> sonderer Berücksichtigung seiner Theorie vom Gesetze" (Berlin, L. Schleiermacher,<lb/> 1879), einem Werke, das sich in erster Linie eine kritische Würdigung der<lb/> Theologie Luthers zur Aufgabe gestellt hat. Dasselbe enthält eine sehr ein¬<lb/> gehende und scharfsinnige kritische Analyse der lutherschen Schrift, die ebenfalls<lb/> wesentlich darauf hinauskommt, in ihr den Standpunkt eines einseitigen mystischen<lb/> Idealismus zu erkennen.</p><lb/> <p xml:id="ID_448" next="#ID_449"> Auf diesen Angriff haben wir folgendes zu erwiedern. Erstens, daß man<lb/> nicht die deutsche, sondern die viel schärfere und ausgeführtere lateinische Redak¬<lb/> tion bei der Beurtheilung zu Grunde legen muß. Die deutsche Redaktion ist<lb/> sehr stimmungsvoll, und der Eindruck, den sie hervorbringt, kann allerdings<lb/> leicht zu den Bedenken veranlassen, die Hering und Lommatzsch ausgesprochen<lb/> haben. Beide Gelehrten haben freilich ebenso wohl die lateinische wie die deutsche</p><lb/> <note xml:id="FID_22" place="foot"> *) a. a, O. S, 191-193,</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0144]
das göttliche Wort, aus dem diese beiden ein Wachsthum ihrer Kraft zu erwarten
haben. Der gute Mensch thut gute Werke, aber gute Werke machen nicht den
Menschen gut. Das zweite Motiv der Thätigkeit ergibt sich aus der Verpflich¬
tung zum Gemeinschaftsleben. Wir sollen uns derselben nicht entziehen, viel¬
mehr in sie eintreten in dienender, selbstverleugnender Liebe. Wir sollen nicht
müßig verharren in der uns voll sättigenden und beseligenden Liebesgemeinschaft
mit Gott, sondern von dieser Höhe hinabsteigen zu der Bedürftigkeit unsers
Nächste», um ihr zu helfen. Was wir von Christus empfangen haben, sollen
wir dem Nächsten geben, und so ein jeder des andern Christus werden. Von
hier aus findet der Traktat schließlich auch den Weg zu reformatorischen
Gedanken, indem diese Werke der Liebe zum Maßstabe genommen werden, um
den Werth der von der katholischen Kirche empfohlenen Werke zu erkennen,
und indem die Frage erörtert wird, wie sich die christliche Freiheit gegenüber
den Ceremonieen der römischen Kirche zu bewähren habe.
In neuester Zeit ist dieser Traktat von zwei Forschern auf dem Gebiete
der reformatorischen Theologie stark in Anspruch genommen worden. Hering*)
findet bei aller Anerkennung der hohen ethischen Bedeutsamkeit der Schrift, daß
sie einen mystischen Idealismus verrathe, der sich einmal darin zeige, daß nicht
zur Geltung gebracht werde, wie der Christ immer unter dem die Liebe mit
einschließenden Gebote Gottes steht und auch sein freies Wirken in dieser Hinsicht
nur Gehorsam ist; sodann, insofern sie den Gehorsam gegen die Obrigkeit aus¬
schließlich aus der sich akkommodirenden Liebe ableite, die den Schwachen nicht
Aergerniß geben will. In wesentlicher Uebereinstimmung mit dieser Ausfassung
des Traktats befindet sich L o in matzschin dem soeben erschienenen umfangreichen
Werke: „Luthers Lehre vom ethisch-religiösen Standpunkte aus und mit be¬
sonderer Berücksichtigung seiner Theorie vom Gesetze" (Berlin, L. Schleiermacher,
1879), einem Werke, das sich in erster Linie eine kritische Würdigung der
Theologie Luthers zur Aufgabe gestellt hat. Dasselbe enthält eine sehr ein¬
gehende und scharfsinnige kritische Analyse der lutherschen Schrift, die ebenfalls
wesentlich darauf hinauskommt, in ihr den Standpunkt eines einseitigen mystischen
Idealismus zu erkennen.
Auf diesen Angriff haben wir folgendes zu erwiedern. Erstens, daß man
nicht die deutsche, sondern die viel schärfere und ausgeführtere lateinische Redak¬
tion bei der Beurtheilung zu Grunde legen muß. Die deutsche Redaktion ist
sehr stimmungsvoll, und der Eindruck, den sie hervorbringt, kann allerdings
leicht zu den Bedenken veranlassen, die Hering und Lommatzsch ausgesprochen
haben. Beide Gelehrten haben freilich ebenso wohl die lateinische wie die deutsche
*) a. a, O. S, 191-193,
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