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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Unvollkommen, Schwachen, Unbeständigen, die eines äußeren Antriebes, einer
Nöthigung zum Guten bedürfen, und beruft sich auf das Wort des Hiero-
nymus: "Lebe so im Kloster, daß du verdienst, ein Kleriker zu sein." Viel mehr
als für das Mönchsleben hegt er Sympathie für das Zusammenleben eines
Bischofs mit seinen Priestern. Mit dieser Polemik steht nun allerdings in
sonderbarem Widerspruch, daß Goes 1451 das Priorat der Augustiner-Kano¬
nissinnen Tabor in Mecheln gründete und als Leiter derselben'1475 starb.
Wie er diesen Widerspruch in sich ausgeglichen hat, ist uns unbekannt geblieben.
Wagen wir aber nach den eben erörterten Beziehungen kaum, ihn in die Reihe
derer zu zählen, welche der Reformation die Wege geebnet haben, so ist doch
seine Wirksamkeit insofern hier in Betracht zu ziehen, als er für die Autorität
der heiligen Schrift gegenüber der Tradition ein kräftiges Wort gesprochen hat.
Er erklärt ausdrücklich: "Die kanonische Schrift allein besitzt eine unzweifelhafte
und unverbrüchliche Autorität. Die Schriften der alten Väter haben nur so¬
viel Autorität, als sie mit der biblischen Wahrheit übereinstimmend sind. Die
Schriften der neueren Lehrer aber, zumal die Schriften der Bettelorden --
dienen mehr dem Nichtigen als der Wahrheit." In dieser Auffassung, auch in
der Gegenüberstellung der älteren und der späteren Ueberlieferung, bewegt sich
Goes auf reformatorischen Boden.*)

Nur eine Persönlichkeit gehört diesem Kreise an, welche dem Gedanken-
gange der Reformation innerlicher nahe gekommen ist, Johann Wessel. Luther
nennt ihn einen seltenen und hohen Geist, der sich als einen wahren Gottes¬
gelehrten erwiesen habe, und erklärt: "Wenn ich den Wessel zuvor gelesen, so
ließen meine Widersacher sich dünken, Luther hätte Alles von Wessel genommen;
also stimmet unser Geist zusammen, es wächset mir daher eine besondere Freude
und Stärke." Wir würden allerdings irren, wenn wir bei Wessel die evan¬
gelische Rechtfertigungslehre voraussetzten; diese findet sich bei ihm nicht, er ist
hier innerhalb der Grenzen der katholischen Theorie geblieben; es ist ihm die
durch den Glauben und die Liebe hervorgebrachte religiös-sittliche Thätigkeit
des Menschen ein geistiges Opfer, das zugleich mit dem vollkommenen Opfer
Christi ein Moment in der Rechtfertigung bildet; aber dies letztere ist das
übergreifende, nicht blos nach objektiver Betrachtungsweise, sondern auch für
sein subjektives Bewußtsein. Wie Bernhard v. Clairvaux setzt er seine Zuversicht
wesentlich in die durch Christus verbürgte Gnade. Noch bedeutungsvoller aber
erscheint uns Wessels Stellung zur Kirche; wir finden hier in der That die
Bahn betreten, welche die Reformatoren eingeschlagen haben. Wessel hat die



*) Vgl. Ullmann, Die Reformatoren vor der Reformation, Bd. I. Hamburg, F. Perthes,
1841 und H. Schmidt unter "Goes" in der Herzogschen Real-EncyklopSdie.

Unvollkommen, Schwachen, Unbeständigen, die eines äußeren Antriebes, einer
Nöthigung zum Guten bedürfen, und beruft sich auf das Wort des Hiero-
nymus: „Lebe so im Kloster, daß du verdienst, ein Kleriker zu sein." Viel mehr
als für das Mönchsleben hegt er Sympathie für das Zusammenleben eines
Bischofs mit seinen Priestern. Mit dieser Polemik steht nun allerdings in
sonderbarem Widerspruch, daß Goes 1451 das Priorat der Augustiner-Kano¬
nissinnen Tabor in Mecheln gründete und als Leiter derselben'1475 starb.
Wie er diesen Widerspruch in sich ausgeglichen hat, ist uns unbekannt geblieben.
Wagen wir aber nach den eben erörterten Beziehungen kaum, ihn in die Reihe
derer zu zählen, welche der Reformation die Wege geebnet haben, so ist doch
seine Wirksamkeit insofern hier in Betracht zu ziehen, als er für die Autorität
der heiligen Schrift gegenüber der Tradition ein kräftiges Wort gesprochen hat.
Er erklärt ausdrücklich: „Die kanonische Schrift allein besitzt eine unzweifelhafte
und unverbrüchliche Autorität. Die Schriften der alten Väter haben nur so¬
viel Autorität, als sie mit der biblischen Wahrheit übereinstimmend sind. Die
Schriften der neueren Lehrer aber, zumal die Schriften der Bettelorden —
dienen mehr dem Nichtigen als der Wahrheit." In dieser Auffassung, auch in
der Gegenüberstellung der älteren und der späteren Ueberlieferung, bewegt sich
Goes auf reformatorischen Boden.*)

Nur eine Persönlichkeit gehört diesem Kreise an, welche dem Gedanken-
gange der Reformation innerlicher nahe gekommen ist, Johann Wessel. Luther
nennt ihn einen seltenen und hohen Geist, der sich als einen wahren Gottes¬
gelehrten erwiesen habe, und erklärt: „Wenn ich den Wessel zuvor gelesen, so
ließen meine Widersacher sich dünken, Luther hätte Alles von Wessel genommen;
also stimmet unser Geist zusammen, es wächset mir daher eine besondere Freude
und Stärke." Wir würden allerdings irren, wenn wir bei Wessel die evan¬
gelische Rechtfertigungslehre voraussetzten; diese findet sich bei ihm nicht, er ist
hier innerhalb der Grenzen der katholischen Theorie geblieben; es ist ihm die
durch den Glauben und die Liebe hervorgebrachte religiös-sittliche Thätigkeit
des Menschen ein geistiges Opfer, das zugleich mit dem vollkommenen Opfer
Christi ein Moment in der Rechtfertigung bildet; aber dies letztere ist das
übergreifende, nicht blos nach objektiver Betrachtungsweise, sondern auch für
sein subjektives Bewußtsein. Wie Bernhard v. Clairvaux setzt er seine Zuversicht
wesentlich in die durch Christus verbürgte Gnade. Noch bedeutungsvoller aber
erscheint uns Wessels Stellung zur Kirche; wir finden hier in der That die
Bahn betreten, welche die Reformatoren eingeschlagen haben. Wessel hat die



*) Vgl. Ullmann, Die Reformatoren vor der Reformation, Bd. I. Hamburg, F. Perthes,
1841 und H. Schmidt unter „Goes" in der Herzogschen Real-EncyklopSdie.
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[0104] Unvollkommen, Schwachen, Unbeständigen, die eines äußeren Antriebes, einer Nöthigung zum Guten bedürfen, und beruft sich auf das Wort des Hiero- nymus: „Lebe so im Kloster, daß du verdienst, ein Kleriker zu sein." Viel mehr als für das Mönchsleben hegt er Sympathie für das Zusammenleben eines Bischofs mit seinen Priestern. Mit dieser Polemik steht nun allerdings in sonderbarem Widerspruch, daß Goes 1451 das Priorat der Augustiner-Kano¬ nissinnen Tabor in Mecheln gründete und als Leiter derselben'1475 starb. Wie er diesen Widerspruch in sich ausgeglichen hat, ist uns unbekannt geblieben. Wagen wir aber nach den eben erörterten Beziehungen kaum, ihn in die Reihe derer zu zählen, welche der Reformation die Wege geebnet haben, so ist doch seine Wirksamkeit insofern hier in Betracht zu ziehen, als er für die Autorität der heiligen Schrift gegenüber der Tradition ein kräftiges Wort gesprochen hat. Er erklärt ausdrücklich: „Die kanonische Schrift allein besitzt eine unzweifelhafte und unverbrüchliche Autorität. Die Schriften der alten Väter haben nur so¬ viel Autorität, als sie mit der biblischen Wahrheit übereinstimmend sind. Die Schriften der neueren Lehrer aber, zumal die Schriften der Bettelorden — dienen mehr dem Nichtigen als der Wahrheit." In dieser Auffassung, auch in der Gegenüberstellung der älteren und der späteren Ueberlieferung, bewegt sich Goes auf reformatorischen Boden.*) Nur eine Persönlichkeit gehört diesem Kreise an, welche dem Gedanken- gange der Reformation innerlicher nahe gekommen ist, Johann Wessel. Luther nennt ihn einen seltenen und hohen Geist, der sich als einen wahren Gottes¬ gelehrten erwiesen habe, und erklärt: „Wenn ich den Wessel zuvor gelesen, so ließen meine Widersacher sich dünken, Luther hätte Alles von Wessel genommen; also stimmet unser Geist zusammen, es wächset mir daher eine besondere Freude und Stärke." Wir würden allerdings irren, wenn wir bei Wessel die evan¬ gelische Rechtfertigungslehre voraussetzten; diese findet sich bei ihm nicht, er ist hier innerhalb der Grenzen der katholischen Theorie geblieben; es ist ihm die durch den Glauben und die Liebe hervorgebrachte religiös-sittliche Thätigkeit des Menschen ein geistiges Opfer, das zugleich mit dem vollkommenen Opfer Christi ein Moment in der Rechtfertigung bildet; aber dies letztere ist das übergreifende, nicht blos nach objektiver Betrachtungsweise, sondern auch für sein subjektives Bewußtsein. Wie Bernhard v. Clairvaux setzt er seine Zuversicht wesentlich in die durch Christus verbürgte Gnade. Noch bedeutungsvoller aber erscheint uns Wessels Stellung zur Kirche; wir finden hier in der That die Bahn betreten, welche die Reformatoren eingeschlagen haben. Wessel hat die *) Vgl. Ullmann, Die Reformatoren vor der Reformation, Bd. I. Hamburg, F. Perthes, 1841 und H. Schmidt unter „Goes" in der Herzogschen Real-EncyklopSdie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/104>, abgerufen am 23.07.2024.