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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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So kommen wir zu dem Ergebniß, welches wir als den Zielpunkt dieser
allgemeinen Betrachtungen bezeichnen möchten, daß die Mystik keineswegs als
eine mit dem Protestantismus innerlich verbundne Lebenserscheinung zu be¬
trachten ist, daß wir daher auch keineswegs berechtigt sind, wo wir sie auf
katholischem Gebiete vorfinden, sie ohne weiteres für den Protestantismus als
Vorbereitung desselben in Anspruch zu nehmen. Sie ist eine allgemeine Be¬
wegung des religiösen Geistes, die, keiner Konfession als solcher eigen, nicht
einmal dem Christenthum ausschließlich angehört, die vielmehr mit den mannig¬
faltigsten religiösen Gestaltungen sich verbinden kann. Eine andre Frage ist
es, ob wir die Mystik als eine für die Entstehung des Protestantismus gleich-
giltige oder als eine dieselbe begünstigende Richtung des religiösen Lebens an¬
sehen dürfen. Die Beantwortung dieser Frage läßt sich nur auf geschichtlichem
Wege geben. Dabei gliedert sich unsre Aufgabe vou selbst nach zwei Seiten:
Einmal werden wir zu untersuchen haben, ob sich in der Mystik des Mittel¬
alters Spuren evangelisch-protestantischer Anschauungen finden, an welche die
Reformatoren anknüpfen konnten, und ob sich in dem Ideenkreise der Refor¬
matoren die Gedankengänge der Mystik des Mittelalters aufweisen lassen.*)

Es gibt wohl keinen Schriftsteller des Mittelalters, der in dem Maße
auf die Gestaltung des Ideals christlicher Frömmigkeit bestimmend gewirkt hat
wie Bernhard v. Clairvaux. Seine hervorragende Persönlichkeit, seine reli¬
giöse und sittliche Energie, seine dogmatische Korrektheit ließen ihn als hervor¬
ragenden Repräsentanten und Lehrer echt christlicher Gesinnung erscheinen. Und
welche Richtung nehmen seine Jdeengünge? Man wird ihn nirgends gegen
die kirchliche Lehrform anstoßen sehen, er hält sich durchaus innerhalb der
Grenzen derselben; aber vermöge des mystischen Zuges seiner Frömmigkeit
sehen wir ihn die Gedanken, auf denen das Bewußtsein eignen Werthes Gott
gegenüber ruhen kann, durchbrechen und einer Bewegung des Gemüthes Raum
geben, in welcher das eigne Ich, sein Wollen, Wirken und Verdienen völlig
verschwindet und die göttliche Gnade allein als die alles darbietende, alle sitt¬
lichen Mängel deckende Zufluchtsstätte für den sich ihr vertrauenden Menschen
angeschaut wird. Es ist dieselbe Stimmung des religiösen Selbstbewußtseins,
welche uns in den Worten eines Franziskus von Assisi und eines Antonius
von Padua entgegentritt; die Verzichtleistung auf eignen Werth, die Schätzung
aller eignen sittlichen Kraft als göttlicher Gabe, das Vertrauen auf die gött¬
liche Barmherzigkeit. Auch Johann Gerson bewegt sich in verwandten Ge¬
dankenkreisen.



f) Vergl. zu dem Nachfolgenden Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung
und Versöhnung. Bd. I, S. 74--1SS, dessen durchschlagenden Nntersachnngen wir im Wesens
lichen gefolgt sind.

So kommen wir zu dem Ergebniß, welches wir als den Zielpunkt dieser
allgemeinen Betrachtungen bezeichnen möchten, daß die Mystik keineswegs als
eine mit dem Protestantismus innerlich verbundne Lebenserscheinung zu be¬
trachten ist, daß wir daher auch keineswegs berechtigt sind, wo wir sie auf
katholischem Gebiete vorfinden, sie ohne weiteres für den Protestantismus als
Vorbereitung desselben in Anspruch zu nehmen. Sie ist eine allgemeine Be¬
wegung des religiösen Geistes, die, keiner Konfession als solcher eigen, nicht
einmal dem Christenthum ausschließlich angehört, die vielmehr mit den mannig¬
faltigsten religiösen Gestaltungen sich verbinden kann. Eine andre Frage ist
es, ob wir die Mystik als eine für die Entstehung des Protestantismus gleich-
giltige oder als eine dieselbe begünstigende Richtung des religiösen Lebens an¬
sehen dürfen. Die Beantwortung dieser Frage läßt sich nur auf geschichtlichem
Wege geben. Dabei gliedert sich unsre Aufgabe vou selbst nach zwei Seiten:
Einmal werden wir zu untersuchen haben, ob sich in der Mystik des Mittel¬
alters Spuren evangelisch-protestantischer Anschauungen finden, an welche die
Reformatoren anknüpfen konnten, und ob sich in dem Ideenkreise der Refor¬
matoren die Gedankengänge der Mystik des Mittelalters aufweisen lassen.*)

Es gibt wohl keinen Schriftsteller des Mittelalters, der in dem Maße
auf die Gestaltung des Ideals christlicher Frömmigkeit bestimmend gewirkt hat
wie Bernhard v. Clairvaux. Seine hervorragende Persönlichkeit, seine reli¬
giöse und sittliche Energie, seine dogmatische Korrektheit ließen ihn als hervor¬
ragenden Repräsentanten und Lehrer echt christlicher Gesinnung erscheinen. Und
welche Richtung nehmen seine Jdeengünge? Man wird ihn nirgends gegen
die kirchliche Lehrform anstoßen sehen, er hält sich durchaus innerhalb der
Grenzen derselben; aber vermöge des mystischen Zuges seiner Frömmigkeit
sehen wir ihn die Gedanken, auf denen das Bewußtsein eignen Werthes Gott
gegenüber ruhen kann, durchbrechen und einer Bewegung des Gemüthes Raum
geben, in welcher das eigne Ich, sein Wollen, Wirken und Verdienen völlig
verschwindet und die göttliche Gnade allein als die alles darbietende, alle sitt¬
lichen Mängel deckende Zufluchtsstätte für den sich ihr vertrauenden Menschen
angeschaut wird. Es ist dieselbe Stimmung des religiösen Selbstbewußtseins,
welche uns in den Worten eines Franziskus von Assisi und eines Antonius
von Padua entgegentritt; die Verzichtleistung auf eignen Werth, die Schätzung
aller eignen sittlichen Kraft als göttlicher Gabe, das Vertrauen auf die gött¬
liche Barmherzigkeit. Auch Johann Gerson bewegt sich in verwandten Ge¬
dankenkreisen.



f) Vergl. zu dem Nachfolgenden Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung
und Versöhnung. Bd. I, S. 74—1SS, dessen durchschlagenden Nntersachnngen wir im Wesens
lichen gefolgt sind.
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[0102] So kommen wir zu dem Ergebniß, welches wir als den Zielpunkt dieser allgemeinen Betrachtungen bezeichnen möchten, daß die Mystik keineswegs als eine mit dem Protestantismus innerlich verbundne Lebenserscheinung zu be¬ trachten ist, daß wir daher auch keineswegs berechtigt sind, wo wir sie auf katholischem Gebiete vorfinden, sie ohne weiteres für den Protestantismus als Vorbereitung desselben in Anspruch zu nehmen. Sie ist eine allgemeine Be¬ wegung des religiösen Geistes, die, keiner Konfession als solcher eigen, nicht einmal dem Christenthum ausschließlich angehört, die vielmehr mit den mannig¬ faltigsten religiösen Gestaltungen sich verbinden kann. Eine andre Frage ist es, ob wir die Mystik als eine für die Entstehung des Protestantismus gleich- giltige oder als eine dieselbe begünstigende Richtung des religiösen Lebens an¬ sehen dürfen. Die Beantwortung dieser Frage läßt sich nur auf geschichtlichem Wege geben. Dabei gliedert sich unsre Aufgabe vou selbst nach zwei Seiten: Einmal werden wir zu untersuchen haben, ob sich in der Mystik des Mittel¬ alters Spuren evangelisch-protestantischer Anschauungen finden, an welche die Reformatoren anknüpfen konnten, und ob sich in dem Ideenkreise der Refor¬ matoren die Gedankengänge der Mystik des Mittelalters aufweisen lassen.*) Es gibt wohl keinen Schriftsteller des Mittelalters, der in dem Maße auf die Gestaltung des Ideals christlicher Frömmigkeit bestimmend gewirkt hat wie Bernhard v. Clairvaux. Seine hervorragende Persönlichkeit, seine reli¬ giöse und sittliche Energie, seine dogmatische Korrektheit ließen ihn als hervor¬ ragenden Repräsentanten und Lehrer echt christlicher Gesinnung erscheinen. Und welche Richtung nehmen seine Jdeengünge? Man wird ihn nirgends gegen die kirchliche Lehrform anstoßen sehen, er hält sich durchaus innerhalb der Grenzen derselben; aber vermöge des mystischen Zuges seiner Frömmigkeit sehen wir ihn die Gedanken, auf denen das Bewußtsein eignen Werthes Gott gegenüber ruhen kann, durchbrechen und einer Bewegung des Gemüthes Raum geben, in welcher das eigne Ich, sein Wollen, Wirken und Verdienen völlig verschwindet und die göttliche Gnade allein als die alles darbietende, alle sitt¬ lichen Mängel deckende Zufluchtsstätte für den sich ihr vertrauenden Menschen angeschaut wird. Es ist dieselbe Stimmung des religiösen Selbstbewußtseins, welche uns in den Worten eines Franziskus von Assisi und eines Antonius von Padua entgegentritt; die Verzichtleistung auf eignen Werth, die Schätzung aller eignen sittlichen Kraft als göttlicher Gabe, das Vertrauen auf die gött¬ liche Barmherzigkeit. Auch Johann Gerson bewegt sich in verwandten Ge¬ dankenkreisen. f) Vergl. zu dem Nachfolgenden Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. I, S. 74—1SS, dessen durchschlagenden Nntersachnngen wir im Wesens lichen gefolgt sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/102>, abgerufen am 23.07.2024.