Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Kennzeichen gewiesen seien. Einmal wird der Mystiker in eine solche Beziehung
zu Gott treten, daß er in ihr eine wesentliche Einheit mit diesem sucht, in
welcher er selbst bald metaphysisch, bald nur moralisch in Gott aufgeht, sich
selbst als endliches und deshalb nichtiges Sein weiß, gegenüber Gott, dem
allein wahres Sein zukomme, der alles in allem wirke. Wir werden sodann
vermöge der Versenkung in die Innerlichkeit des subjektiven Gemüthslebens
den Mystiker mehr oder weniger fremd der äußeren, sichtbaren Erscheinungs¬
welt gegenüberstehen, wir werden endlich das ihn erfüllende Bewußtsein eigner
Nichtigkeit in einer Bevorzugung passiver, in einer Geringschätzung aktiver
Tugenden sich darstellen sehen.

Fassen wir die letzten beiden Kennzeichen der Mystik ins Auge, so leidet
es keinen Zweifel, daß der Katholizismus mannigfache Anhaltspunkte für
sie bietet, da er ja die asketische Lebensweise, die klösterliche Abgeschlossenheit
pflegt und auszeichnet; dieser Voraussetzung entspricht es denn auch, daß auf
katholischem Boden gerade innerhalb der Mönchskreise die Mystik die vollste
Entfaltung gefunden hat. Dagegen ist es ebenfalls außer Frage, daß die
Werthschätzung eigner Leistung in der Lehre von der Rechtfertigung dem Ent¬
stehen einer mystischen Richtung hinderlich entgegentritt. Doch ist dies Hinder¬
niß nicht unüberwindlich. Denn es liegt ja schließlich in der freien Selbst¬
beurtheilung eines jeden, ob er, der Tendenz des Systems folgend, das Ge¬
wicht des menschlichen Faktors stärken, oder, der Tendenz des Systems freilich,
aber nicht der Formel der Lehre widersprechend, dasselbe auf ein Minimum
reduziren und so zugleich die Bedeutsamkeit des göttlichen Faktors zu einem
Maximum steigern will. Wer nicht gegen ein Zerrbild des Katholizismus
streitet, sondern mit der Wirklichkeit desselben sich auseinander setzt, der wird
zugestehen müssen, daß eine solche der Werkgerechtigkeit widerstreitende Strö¬
mung, wenn auch nicht das kirchliche Leben bestimmend, vielmehr nur im schmalen
Bette eines Nebenflusses eingeschlossen, durch alle Perioden des Katholizismus
verfolgt werden kann, ohne daß wir berechtigt wären, dieselbe als protestantisch
zu bezeichnen. Ein evangelischer Zug mag ihr eigen sein, ein protestan¬
tischer nicht.

Zum Protestantismus verhält sich die Mystik offenbar gerade in ent¬
gegengesetzter Weise. Jene letzten beiden Kennzeichen der Mystik vermissen wir
hier; der Protestantismus ist nicht weltabgeschlossen, sondern weltaufgeschlossen;
es ist nicht das leidende Verhalten, sondern das thatkräftige, wirksam eingrei¬
fende, das er weckt und Pflegt; dagegen liegt es ganz auf seiner Linie, in der
Beziehung zu Gott dem menschlichen Faktor alle Eigenleistung abzusprechen
und ihm nur die Fähigkeit zur Aufnahme der göttlichen Selbstmittheilung
zuzuerkennen. Hier also begegnet er sich mit der Mystik.


Grenzl'vier IV. 1879. 13

Kennzeichen gewiesen seien. Einmal wird der Mystiker in eine solche Beziehung
zu Gott treten, daß er in ihr eine wesentliche Einheit mit diesem sucht, in
welcher er selbst bald metaphysisch, bald nur moralisch in Gott aufgeht, sich
selbst als endliches und deshalb nichtiges Sein weiß, gegenüber Gott, dem
allein wahres Sein zukomme, der alles in allem wirke. Wir werden sodann
vermöge der Versenkung in die Innerlichkeit des subjektiven Gemüthslebens
den Mystiker mehr oder weniger fremd der äußeren, sichtbaren Erscheinungs¬
welt gegenüberstehen, wir werden endlich das ihn erfüllende Bewußtsein eigner
Nichtigkeit in einer Bevorzugung passiver, in einer Geringschätzung aktiver
Tugenden sich darstellen sehen.

Fassen wir die letzten beiden Kennzeichen der Mystik ins Auge, so leidet
es keinen Zweifel, daß der Katholizismus mannigfache Anhaltspunkte für
sie bietet, da er ja die asketische Lebensweise, die klösterliche Abgeschlossenheit
pflegt und auszeichnet; dieser Voraussetzung entspricht es denn auch, daß auf
katholischem Boden gerade innerhalb der Mönchskreise die Mystik die vollste
Entfaltung gefunden hat. Dagegen ist es ebenfalls außer Frage, daß die
Werthschätzung eigner Leistung in der Lehre von der Rechtfertigung dem Ent¬
stehen einer mystischen Richtung hinderlich entgegentritt. Doch ist dies Hinder¬
niß nicht unüberwindlich. Denn es liegt ja schließlich in der freien Selbst¬
beurtheilung eines jeden, ob er, der Tendenz des Systems folgend, das Ge¬
wicht des menschlichen Faktors stärken, oder, der Tendenz des Systems freilich,
aber nicht der Formel der Lehre widersprechend, dasselbe auf ein Minimum
reduziren und so zugleich die Bedeutsamkeit des göttlichen Faktors zu einem
Maximum steigern will. Wer nicht gegen ein Zerrbild des Katholizismus
streitet, sondern mit der Wirklichkeit desselben sich auseinander setzt, der wird
zugestehen müssen, daß eine solche der Werkgerechtigkeit widerstreitende Strö¬
mung, wenn auch nicht das kirchliche Leben bestimmend, vielmehr nur im schmalen
Bette eines Nebenflusses eingeschlossen, durch alle Perioden des Katholizismus
verfolgt werden kann, ohne daß wir berechtigt wären, dieselbe als protestantisch
zu bezeichnen. Ein evangelischer Zug mag ihr eigen sein, ein protestan¬
tischer nicht.

Zum Protestantismus verhält sich die Mystik offenbar gerade in ent¬
gegengesetzter Weise. Jene letzten beiden Kennzeichen der Mystik vermissen wir
hier; der Protestantismus ist nicht weltabgeschlossen, sondern weltaufgeschlossen;
es ist nicht das leidende Verhalten, sondern das thatkräftige, wirksam eingrei¬
fende, das er weckt und Pflegt; dagegen liegt es ganz auf seiner Linie, in der
Beziehung zu Gott dem menschlichen Faktor alle Eigenleistung abzusprechen
und ihm nur die Fähigkeit zur Aufnahme der göttlichen Selbstmittheilung
zuzuerkennen. Hier also begegnet er sich mit der Mystik.


Grenzl'vier IV. 1879. 13
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/143156"/>
          <p xml:id="ID_325" prev="#ID_324"> Kennzeichen gewiesen seien. Einmal wird der Mystiker in eine solche Beziehung<lb/>
zu Gott treten, daß er in ihr eine wesentliche Einheit mit diesem sucht, in<lb/>
welcher er selbst bald metaphysisch, bald nur moralisch in Gott aufgeht, sich<lb/>
selbst als endliches und deshalb nichtiges Sein weiß, gegenüber Gott, dem<lb/>
allein wahres Sein zukomme, der alles in allem wirke. Wir werden sodann<lb/>
vermöge der Versenkung in die Innerlichkeit des subjektiven Gemüthslebens<lb/>
den Mystiker mehr oder weniger fremd der äußeren, sichtbaren Erscheinungs¬<lb/>
welt gegenüberstehen, wir werden endlich das ihn erfüllende Bewußtsein eigner<lb/>
Nichtigkeit in einer Bevorzugung passiver, in einer Geringschätzung aktiver<lb/>
Tugenden sich darstellen sehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_326"> Fassen wir die letzten beiden Kennzeichen der Mystik ins Auge, so leidet<lb/>
es keinen Zweifel, daß der Katholizismus mannigfache Anhaltspunkte für<lb/>
sie bietet, da er ja die asketische Lebensweise, die klösterliche Abgeschlossenheit<lb/>
pflegt und auszeichnet; dieser Voraussetzung entspricht es denn auch, daß auf<lb/>
katholischem Boden gerade innerhalb der Mönchskreise die Mystik die vollste<lb/>
Entfaltung gefunden hat. Dagegen ist es ebenfalls außer Frage, daß die<lb/>
Werthschätzung eigner Leistung in der Lehre von der Rechtfertigung dem Ent¬<lb/>
stehen einer mystischen Richtung hinderlich entgegentritt. Doch ist dies Hinder¬<lb/>
niß nicht unüberwindlich. Denn es liegt ja schließlich in der freien Selbst¬<lb/>
beurtheilung eines jeden, ob er, der Tendenz des Systems folgend, das Ge¬<lb/>
wicht des menschlichen Faktors stärken, oder, der Tendenz des Systems freilich,<lb/>
aber nicht der Formel der Lehre widersprechend, dasselbe auf ein Minimum<lb/>
reduziren und so zugleich die Bedeutsamkeit des göttlichen Faktors zu einem<lb/>
Maximum steigern will. Wer nicht gegen ein Zerrbild des Katholizismus<lb/>
streitet, sondern mit der Wirklichkeit desselben sich auseinander setzt, der wird<lb/>
zugestehen müssen, daß eine solche der Werkgerechtigkeit widerstreitende Strö¬<lb/>
mung, wenn auch nicht das kirchliche Leben bestimmend, vielmehr nur im schmalen<lb/>
Bette eines Nebenflusses eingeschlossen, durch alle Perioden des Katholizismus<lb/>
verfolgt werden kann, ohne daß wir berechtigt wären, dieselbe als protestantisch<lb/>
zu bezeichnen. Ein evangelischer Zug mag ihr eigen sein, ein protestan¬<lb/>
tischer nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_327"> Zum Protestantismus verhält sich die Mystik offenbar gerade in ent¬<lb/>
gegengesetzter Weise. Jene letzten beiden Kennzeichen der Mystik vermissen wir<lb/>
hier; der Protestantismus ist nicht weltabgeschlossen, sondern weltaufgeschlossen;<lb/>
es ist nicht das leidende Verhalten, sondern das thatkräftige, wirksam eingrei¬<lb/>
fende, das er weckt und Pflegt; dagegen liegt es ganz auf seiner Linie, in der<lb/>
Beziehung zu Gott dem menschlichen Faktor alle Eigenleistung abzusprechen<lb/>
und ihm nur die Fähigkeit zur Aufnahme der göttlichen Selbstmittheilung<lb/>
zuzuerkennen. Hier also begegnet er sich mit der Mystik.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzl'vier IV. 1879. 13</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0101] Kennzeichen gewiesen seien. Einmal wird der Mystiker in eine solche Beziehung zu Gott treten, daß er in ihr eine wesentliche Einheit mit diesem sucht, in welcher er selbst bald metaphysisch, bald nur moralisch in Gott aufgeht, sich selbst als endliches und deshalb nichtiges Sein weiß, gegenüber Gott, dem allein wahres Sein zukomme, der alles in allem wirke. Wir werden sodann vermöge der Versenkung in die Innerlichkeit des subjektiven Gemüthslebens den Mystiker mehr oder weniger fremd der äußeren, sichtbaren Erscheinungs¬ welt gegenüberstehen, wir werden endlich das ihn erfüllende Bewußtsein eigner Nichtigkeit in einer Bevorzugung passiver, in einer Geringschätzung aktiver Tugenden sich darstellen sehen. Fassen wir die letzten beiden Kennzeichen der Mystik ins Auge, so leidet es keinen Zweifel, daß der Katholizismus mannigfache Anhaltspunkte für sie bietet, da er ja die asketische Lebensweise, die klösterliche Abgeschlossenheit pflegt und auszeichnet; dieser Voraussetzung entspricht es denn auch, daß auf katholischem Boden gerade innerhalb der Mönchskreise die Mystik die vollste Entfaltung gefunden hat. Dagegen ist es ebenfalls außer Frage, daß die Werthschätzung eigner Leistung in der Lehre von der Rechtfertigung dem Ent¬ stehen einer mystischen Richtung hinderlich entgegentritt. Doch ist dies Hinder¬ niß nicht unüberwindlich. Denn es liegt ja schließlich in der freien Selbst¬ beurtheilung eines jeden, ob er, der Tendenz des Systems folgend, das Ge¬ wicht des menschlichen Faktors stärken, oder, der Tendenz des Systems freilich, aber nicht der Formel der Lehre widersprechend, dasselbe auf ein Minimum reduziren und so zugleich die Bedeutsamkeit des göttlichen Faktors zu einem Maximum steigern will. Wer nicht gegen ein Zerrbild des Katholizismus streitet, sondern mit der Wirklichkeit desselben sich auseinander setzt, der wird zugestehen müssen, daß eine solche der Werkgerechtigkeit widerstreitende Strö¬ mung, wenn auch nicht das kirchliche Leben bestimmend, vielmehr nur im schmalen Bette eines Nebenflusses eingeschlossen, durch alle Perioden des Katholizismus verfolgt werden kann, ohne daß wir berechtigt wären, dieselbe als protestantisch zu bezeichnen. Ein evangelischer Zug mag ihr eigen sein, ein protestan¬ tischer nicht. Zum Protestantismus verhält sich die Mystik offenbar gerade in ent¬ gegengesetzter Weise. Jene letzten beiden Kennzeichen der Mystik vermissen wir hier; der Protestantismus ist nicht weltabgeschlossen, sondern weltaufgeschlossen; es ist nicht das leidende Verhalten, sondern das thatkräftige, wirksam eingrei¬ fende, das er weckt und Pflegt; dagegen liegt es ganz auf seiner Linie, in der Beziehung zu Gott dem menschlichen Faktor alle Eigenleistung abzusprechen und ihm nur die Fähigkeit zur Aufnahme der göttlichen Selbstmittheilung zuzuerkennen. Hier also begegnet er sich mit der Mystik. Grenzl'vier IV. 1879. 13

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/101
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/101>, abgerufen am 23.07.2024.